Skelett im Glassarg
Kloster Obermarchtal: Hier schlummern allerhand Schätze
Obermarchtal / Lesedauer: 9 min

Hildegard Nagler
Wer himmlische Hilfe möchte, kann sie hier schnell bekommen. Die Heiligen Barbara, Ottilie, Afra, und beispielsweise Josef, die Jungfrau Maria, Mitglieder der Himmlischen Heerscharen und viele andere sind in einigen Größen einsatzbereit ‐ von der 20 Zentimeter großen Figur bis zur überlebensgroßen Statue. Auch Gemälde mit den himmlischen Fürsprechern gibt es im Depot der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Obermarchtal (Alb-Donau-Kreis) in vielen Formaten.
Rent a Saint ‐ Miete einen Heiligen
Will eine katholische Kirchengemeinde etwas ausleihen, muss sie nur einen Leihvertrag mit der Diözese unterzeichnen. Dann darf sie den oder die Auserwählte mitnehmen und 30 Jahre lang bei sich Dienst tun lassen. Wird der Vertrag nicht gekündigt, verlängert er sich automatisch um ein Jahr.

„Miete eine Heiligenfigur oder ein anderes religiöses Objekt“, könnte das Angebot der Diözese an ihre katholischen Kirchengemeinden lauten. „Wir sind froh, wenn unsere Objekte nicht im Depot bleiben, sondern einer sakralen Nutzung zugeführt werden. Dafür sind sie gemacht“, sagt Depotleiter Ralf Schneider.
Sammelstelle für rund 10.000 sakrale Objekte
„Bewahren. Sichern. Wieder nutzen“ ‐ so lautet der Leitspruch des Diözesandepots. Seit 1985 werden im ehemaligen Kloster Obermarchtal mittlerweile knapp 10.000 sakrale Objekte auf einer Fläche von rund 2000 Quadratmetern aufbewahrt. Früher hatte der Orden der Salesianerinnen an diesem Platz seine Wirtschaftsgebäude.
Heute öffnen sich die Scheunentore mit dem massiven blauen Metallgitter dahinter, wenn Kirchengemeinden aufgrund der Modernisierung ihrer Kirche eine Pieta oder alte Kerzenleuchter nicht mehr wollen. Denn auch vor Kirchen macht Mode nicht Halt. Oft erben Privatleute sakrale Gegenstände, können mit ihnen nichts anfangen, wollen es aber trotzdem in guten Händen wissen.
Fast 600 Jahre Kirchengeschichte in einem Depot
Massenwaren, also beispielsweise die „150. Herz-Jesu-Gipsfigur“, wie es Depotleiter Schneider formuliert, nimmt man in Obermarchtal nicht an. Die Tore öffnen sich auch, wenn, – wie zuletzt – ein Pfarrer eine Figur des Heiligen Sebastians für seine Pfarrkirche ausleiht. Die Auswahl ist riesig.
Die Palette reicht von historischen Hoch- und Seitenaltären sowie Kanzeln und den dazugehörigen Wendeltreppen, Skulpturen und Reliefs, Kruzifixen und Kreuzwegen, Objekten des Totenkults, Altarleuchtern, Reliquiaren und Reliquien, Kunstverglasungen, Gemälden und Druckgrafiken, Tabernakel, Beichtstühlen hin zu Accessoires sowie Vasa Sacra, also heiligen Gefäße.
Das älteste Objekt ist ein Grablegungschristus und stammt von 1425, das jüngste ein Auferstehungsbild von 1999. Das größte ist mit acht Metern ein Gemälde von Gebhard Fugel, das Kleinste eine Christusfigur mit zehn Zentimetern. Alle Objekte tragen eine Nummer, sind also mit ihrer Herkunft so gut wie möglich erfasst.
Als Schutz vor Dieben gegründet
Auslöser für die Gründung eines Depots waren Diebesbanden. „Die zogen in den 1970er-Jahren durch die Lande und klauten Kunstgegenstände“, sagt Ralf Schneider. Die Kirchenführung in Rom schickte eine Direktive an alle Bistümer weltweit. Der Inhalt: Sie sollten ihren Kunstbesitz inventarisieren und sichern. Im Zuge des Modernisierungsprozesses in den 1970er-Jahren seien zudem sehr viele Kirchen ausgeräumt worden. Oft verstauten die Verantwortlichen die Kunstgegenstände unsachgemäß. „Es gab viel Material, aber keine Gebäude“, fasst Ralf Schneider zusammen.
Ralf SchneiderAltäre konnte man zerlegen und wieder aufbauen ‐ wie es heute bei Ikea Standard ist
Die Klosteranlage Obermarchtal gehörte der Familie Thurn und Taxis, sie verkaufte die Anlage 1972 an die Diözese Rottenburg-Stuttgart. 1976 brannten die leerstehenden Wirtschaftstrakte nieder. Die Diözese entsprach dem Wunsch des Landesamts für Denkmalschutz und baute die beiden Flügel wieder auf. Der Diözesankonservator war in die Planung involviert ‐ und richtete den ersten Depotraum ein. Seither wächst das Lager.
Das Ikea-Prinzip für Altäre
Wer es betritt, stößt auf einen Altar, der in Einzelstücke zerlegt gleich hinter dem Eingang deponiert ist. Zwei selig-fröhlich dreinschauende Engelsköpfe mit Flügeln gehören dazu. „Die Leute haben schon früher praktisch gedacht. Die Altäre konnte man zerlegen und wieder aufbauen ‐ wie es heute bei Ikea Standard ist“, sagt Ralf Schneider.
Als nächstes fällt der Blick auf Beichtstühle. In allen möglichen Varianten stehen sie da ‐ mit und ohne Vorhang, hohe und niedrigere. Besonders auffallend ist ein üppig verzierter weißer Beichtstuhl mit Blumen in Blau, Rot und Orange-Gelb. „Der stammt aus dem Münster Zwiefalten. Um 1760 wurde er von Joseph Anton Feuchtmayer geschaffen und 1804 wieder ausgebaut. Über Umwege kam er zu uns“, erklärt der Depotchef.

Der nächste sehr großen Raum im ersten Stock beherbergt Altäre. Insgesamt beherbergt das Depot rund 50, der höchste ist zwölf Meter hoch. „Viele weitere, auch künstlerisch sehr hochwertige, wurden im Zug der Modernisierung mit Benzin übergossen und verbrannt.“ Mit den Insignien der alten Zeit wollte man endgültig brechen.
Madonna vor bunten Lichtern
Der Depotleiter zeigt auf einen Altar aus der Stiftskirche St. Moritz in Rottenburg. Um 1900 prangte darauf eine Madonna in einem Kranz aus bunten Glühbirnchen. „Zuhause hatten die Leute keinen Strom. Dann kamen sie in die Kirche, sahen die Madonna hell erleuchtet in einer Gloriole, von Weihrauch umgeben. Das war eine Sensation, heute vergleichbar mit dem Trockeneis in einer Disko. Eventkultur war das Ding der Kirche. Sie hat alle Register gezogen, war hypermodern, tonangebend bei Kunst und Kultur“, versichert Schneider.
Vielleicht als Relikt an diese Zeiten durfte die Madonna in der Kirche bleiben. Zwischen den Altären haben immer wieder Spinnen ihre Netze gewoben. Der Depotleiter ist über die tierischen Gäste „gottfroh“, wie er sagt: „Dann weiß ich, dass das Raumklima gut ist. Im Regensburger Depot haben sie ein Insektizid nachgewiesen, das eine Schädigung des Nervensystems auslösen kann. Die Kollegen dort bekommen ein neues Lager und müssen entgiften.“
Versteigerung einer Christus-Skulptur verhindert
Der Besuch des Depots in Obermarchtal kommt einem Schnelldurchgang durch die Kirchengeschichte gleich. Da ist die Christus-Skulptur aus einer Heilig-Grab-Kapelle. Die Figur lag auf dem Dachboden eines alten Kirchengebäudes, das abgerissen werden sollte.
Ralf Schneider über aufwendige ArbeitenWenn Sie einen Porsche oder einen Bugatti haben, wollen sie eine schöne Garage für ihn. Mit dem Heiligen war es damals nicht anders.
Die Gemeinde fanden es beim Aufräumen, Pfadfinder boten sie zur Versteigerung im Internet an. Doch dem Pfarrer war dabei unwohl. Er kontaktierte Ralf Schneider. Der ließ sich ein Foto schicken. Es stellte sich heraus: Die Skulptur stammt aus der Zeit zwischen 1475 bis 1480. Die Versteigerung wurde beendet, der vom Kreuz Abgenommene kam ins Depot.
Scheinsärge und Raubbau am Chorgestühl
Jetzt ist er vor dem Rottenburger Chorgestühl aufgebahrt. Das wurde dem Ulmer nachempfunden, 1856 von der Bayerischen Hofkunstanstalt ausgeführt, bei der auch der König von Bayern Kunde war. 100 Jahre später wurde es herausgerissen. „Unglaublich, wie man damals mit dem Gestühl umgegangen ist“, sagt Ralf Schneider und schüttelt den Kopf.
Rottenburger sollen bei der Aktion Tränen vergossen haben. Zwei Sitzreihen und mehrere Bögen und Figuren sind bisher im Depot, der 59-jährige Chef hofft, dass es noch mehr werden ‐ manche Rottenburger haben Stücke des Gestühls als Erinnerung mit nach Hause genommen.
Ralf Schneider geht an einer Tumba vorbei, einem Scheinsarg, wie er bei Trauerfeiern bis in die 1950er-Jahre in die Kirchen gestellt wurde. „Lange war es verboten, einen Leichnam dort aufzubahren“, erklärt er. „Deshalb gab es die Tumba.“
Ein Skelett im Glassarg
Zwei überlebensgroße schwarze Engel vom Schönenberg hoch über Ellwangen stehen im Depot am Eingang der Gemäldegalerie ‐ zwischen 1900 und 1970 haben sie in der Wallfahrtskirche den Hochaltar „bewacht“. Dann wurden sie ausgemustert.

Japanpapier klebt pflastergleich auf ihnen, damit die Fassung hält. Noch ein Werk vom Schönenberg ist im Depot: ein acht Meter hohes Gemälde von Gebhard Fugel. Der Künstler wurde am 14. August 1863 als zehntes Kind einer bäuerlichen Familie auf dem Hof Oberklöcken bei Oberzell (Kreis Ravensburg) geboren.
Mit nur 16 Jahren ließ man ihn er an der Königlichen Kunstakademie in Stuttgart zu. Sein Werk „Mariä Himmelfahrt“ wurde vermutlich 1915 in den Hochaltar der Schönenbergkirche eingesetzt. 15 Jahre später tauschte die Gemeinde es aus. Das Fugel-Werk zog in eine andere Kirche, und als es auch dort nicht mehr erwünscht war, kam es ins Depot.
Hier endet auch die Reliquie des Heiligen Clemens aus der Kirche in Dormettingen. Das Skelett des Heiligen wurden mit Gazegewebe umwickelt, Klosterfrauen verzierten es aufwendig und in monatelanger Arbeit.
Nun ruht es in einem Glassarg. „Der heilige Leib war einst das teuerste, was man sich leisten konnte. Wenn Sie einen Porsche oder einen Bugatti haben, wollen sie eine schöne Garage für ihn. Mit dem Heiligen war es damals nicht anders. Weil er sehr wertvoll war, stellte man ihn im Glassarg zur Schau“, erklärt Schneider.
„Gut möglich, dass die räumliche Leere die menschliche unterstützt“
Zum Klostergelände in Obermarchtal gehört die ehemalige Klosterkirche, 2001 zum Münster erhoben. Dort ist alles an seinem Platz ist ‐ es ist ein stimmiges Gesamtkunstwerk. Daneben im Depot scheint es, als warteten die Kunstwerke gut sichtbar aufbewahrt auf Abholung und damit auf bessere Zeiten. Der Depotleiter macht in diesem Zusammenhang keinen Hehl daraus, dass er nicht viel von der Modernisierung mancher Kirchen hält. „Für mich kommen sie oft Tiefkühltruhen gleich. Gut möglich, dass die räumliche Leere die menschliche unterstützt“, mutmaßt Ralf Schneider.
Vielleicht komme in 30 Jahren jemand und wolle eine Kirche original ausstatten. Auf jeden Fall seien die Objekte für Museen geeignet. Zwar bewahre man keine Schätze im eigentlichen Sinn auf. „Für solche Dinge gibt es keinen Kunstmarkt und deshalb keine Vergleichsmöglichkeiten. Trotzdem zeigen wir hoch interessante kunsthistorische Objekte. Unser Depot steht Museen in nichts nach. Auch sie zeigen nicht immer alles. Wir denken in Generationen“, versichert der Depotleiter.
In der Diözese Rottenburg-Stuttgart gibt es mehr als 1000 Sakralbauten. In Essen, Köln und Limburg wurden bereits Kirchen geschlossen. Ralf Schneider sagt, dass es in Obermarchtal noch Platz gibt. „Die Zeit des Depots wird kommen.“