StartseiteRegionalBaden-WürttembergKraftakt Angehörigen-Pflege: Familie mit schwerstbehindertem Sohn berichtet vom Alltag

Kraftakt

Kraftakt Angehörigen-Pflege: Familie mit schwerstbehindertem Sohn berichtet vom Alltag

Baden-Württemberg / Lesedauer: 9 min

In der Behindertenhilfe nimmt der Personalmangel existenzielle Formen an, auch pflegende Angehörige stehen vor dem Kollaps. Verbände und Träger pochen auf Sofortmaßnahmen und warnen vor Versorgungsausfällen. Zu Besuch bei einer Familie, die ihren schwerst
Veröffentlicht:31.10.2022, 05:00

Von:
Artikel teilen:

Als Heike Richter von der unheilbaren Erkrankung ihres damals erst sechs Monate alten Sohnes Johannes erfuhr, war ihr sofort klar, was dies bedeutet; für ihn, für sie selbst und für die ganze Familie. Ihre Gedanken und Gefühle in jenem Moment fasste sie in einem einzigen Wort zusammen: „Lebenslänglich.“

25 Jahre später sitzt der inzwischen erwachsene Johannes an einem sonnigen Herbstmorgen im Haus der Familie auf der Ostalb und ringt mit seinem Dasein. Seine Augen schauen meist schräg nach unten und in die Leere, der Kopf hängt leicht schief. Gerade noch ruhig, atmet er erst schwer, windet sich dann am ganzen Körper, trampelt mit den Füßen, schlägt die Fäuste auf die Armlehnen des Spezialrollstuhls und schreit dabei ohrenbetäubend, schrill und wie von einem heftigen inneren Schmerz malträtiert. Dann beruhigt er sich, bis zum nächsten Anfall.

„Sein ganzes Gehirn krampft“, erklärt die Mutter den Schmerz des Sohnes, der am West-Syndrom leidet, einer seltenen Form der Epilepsie, hervorgerufen durch einen Gendefekt. Für ihn und sein Umfeld eine lebenslange Herausforderung. „Wir sind müde“, sagt die 61-jährige Mutter. „Oft gibt es bei uns kein anderes Thema, als Versorgungsstrategien zu entwickeln.“ Und auch das kann zur Qual werden.

Pflegenotstand trotz besserer Vergütung

Pflegenotstand, den gibt es seit Jahren, mit Beginn der Corona-Pandemie hat sich der Begriff jedoch ins Bewusstsein der Öffentlichkeit katapultiert, wurde in Talkshows rauf und runter diskutiert, begleitet von Betroffenheit und den Versprechen, die Missstände anzupacken. Mittlerweile wurden tatsächlich Gehälter und Zulagen der Gesundheitskräfte angehoben, auch die Mindestlöhne der Hilfskräfte steigen bis Ende 2023 schrittweise und kräftig. Ob diese Hebel allerdings Wirkung zeigen, ist noch völlig offen, vor allem an welchen Stellen.

Beim Pflegenotstand ist nämlich meist die Rede von Krankenhäusern und Altenheimen, dramatisch ist jedoch auch die Lage in der Betreuung behinderter Menschen. So kommt eine Studie der TU Darmstadt aus dem Jahr 2021 zu dem Ergebnis, dass es bundesweit in der Behindertenhilfe einen akuten Mangel an Fachkräften gibt. Dazu erklärt Simone Fischer, Beauftragte der Landesregierung Baden-Württemberg für die Belange von Menschen mit Behinderung, der „ Schwäbischen Zeitung “: „Besorgniserregend ist die Situation dort, wo Gruppen oder ganze Einrichtungen schließen müssen.“ Was sich nur so übersetzen lässt: Schon heute ist mancherorts die Versorgung behinderter Menschen nicht mehr gewährleistet.

Diese Entwicklung verwundert die Eheleute Richter keineswegs, die hier nicht mit ihrem richtigen Namen erscheinen. Denn Armin Richter betreut mit seiner Frau nicht nur einen schwerstbehinderten Sohn, der 64-Jährige arbeitet auch in einer Behinderteneinrichtung und möchte keinen Konflikt mit dem Arbeitgeber riskieren. Aber auch unabhängig vom beruflichen Hintergrund war für das Paar von Anfang an klar: Johannes kommt nicht dauerhaft in eine Einrichtung. Er bleibt in der Familie. „Ein Baby braucht Nähe, Wärme und Bezug“, erklärt die Mutter. „Und wir als Eltern wollen ja irgendwohin mit unserer Liebe.“ Auch wenn die Ärzte ihnen damals nur wenig Hoffnung machten und rieten: „Lassen Sie Ihr Kind ganz schnell taufen.“

Wenn die Entwicklung abreißt

Von der Weihe zeugen heute Fotos, das kleine Bündel mit Schläuchen in der Nase und Klebern an der Wange, unschuldig und rührend, „ein wunderschönes Fest“, erinnert sich die Mutter. In den ersten Jahren macht der Junge auch Fortschritte, sagt „Miau“ beim Anblick einer Katze, klettert die Treppe im Haus hoch, von den drei älteren Geschwistern, alle gesund, liebevoll begleitet. „Für sie war es aber auch nicht immer einfach, das krampfende Brüderlein zu sehen, das Sauerstoff benötigt, das blau anläuft, das den Notarzt braucht.“

Im Alter von sechs Jahren reißt die Entwicklung ab, bei Johannes setzen die schweren und fürchterlichen Anfälle ein. Die bis heute anhalten. „Er lebt in seiner eigenen Welt“, sagt der Vater. Versorgt von seinen Eltern, die seit 25 Jahren im Wechsel im Klappbett neben dem Sohn schlafen, die Tag und Nacht die heftigen Attacken begleiten. Die mitansehen müssen, wie er sich durch die vielen Anfälle und schweren Medikamente zusehends verändert. Die nie zusammen mit ihrem Sohn ins Schwimmbad, in ein Café oder in den Bus können. Und immer um finanzielle und personelle Hilfe ringen.

„Man muss selbst sehr, sehr viel über seine Rechte und Ansprüche recherchieren“, sagt Heike Richter, die sich seit Jahren durch Paragrafen, Angebote und Voraussetzungen wühlt, die vor Behörden erklärt, argumentiert und sich rechtfertigt. Diesen Kampf kann nicht jeder bewältigen, das bestätigt Dennis Riehle, Leiter der Konstanzer Beratungsstelle FamilienKnäuel. „Die Zahl der Hilfe suchenden Angehörigen, die einen nahen Verwandten pflegen und betreuen, hat in den vergangenen Monaten dramatisch zugenommen“, erklärt der Sozialberater und warnt vor den Folgen der Überforderung: „Die Anzeichen für ein Ausgebranntsein müssen ernst genommen werden.“

Oft fehlt Hilfe für pflegende Angehörige

Entsprechende Fälle kennt der Experte reichlich, etwa die Mutter, die neben den pflegebedürftigen Eltern auch ihren zwölfjährigen Sohn zu Hause betreut, der unter Autismus-Störungen leidet. „Bislang fehlt es in Wohnortnähe an Hilfsmöglichkeiten zur Entlastung der Pflege der Eltern, aber auch zur stundenweisen Begleitung des Jungen“, erklärt Riehle. „Wie sie all die Anforderungen stemmen soll, weiß sie nicht.“ Oder die 47-jährige Dolmetscherin, die ihre schwerstbehinderte Tochter im häuslichen Umfeld pflegen möchte. Nun musste die Frau zur Schuldnerberatung, weil sie nicht wusste, welche Leistungen die Pflegekasse womöglich übernimmt. „Sie braucht mentale und strukturelle Hilfe, um den Alltag zu bewältigen. Im Moment sieht sie einen Berg an Aufgaben vor sich und wird zunehmend depressiv.“

Biografien wie diese gibt es ohne Ende, darunter auch die von Sabine Reichle (Name geändert). Ihre 22-jährige Tochter leidet ebenfalls an epileptischen Anfällen, muss gewickelt und gefüttert werden. „Sie ist auf dem Stand eines acht oder neun Monate alten Säuglings“, berichtet die alleinerziehende Mutter, die vom Vater des Kindes verlassen wurde. Und händeringend nach Unterstützung sucht. „Es ist furchtbar, man findet niemanden mehr, der Markt ist leer, es ist ein Kampf“, klagt die 59-Jährige. Früher kamen immerhin tageweise Betreuer zu ihr, die selber in Behinderteneinrichtungen arbeiteten. „Doch die wollen inzwischen an ihren freien Wochenenden nicht auch noch in eine Familie.“ Wenn sie nicht so schon ihren Beruf aufgegeben haben.

Zahl der Mitarbeiter sinkt

Denn was für die häusliche Pflege gilt, gilt für die Pflegeeinrichtungen allemal, wie Armin Richter aus seinem Arbeitsalltag weiß: „Die Mitarbeiterquantität ist massiv runtergegangen.“ Daher mehren sich die Berichte über Pflegedienste, die Gruppen auflösen oder einen Aufnahmestopp verhängen, über Einrichtungen, die ganz schließen, weil sie die Personalschlüssel nicht einhalten können. Und die Abwärtsspirale dreht sich weiter, denn immer mehr Fachkräfte ergreifen die Flucht.

„Die Mitarbeiter sind sehr unzufrieden“, sagt Richter, überschwemmt von komplexen Dienstplänen und Dokumentationspflichten sitzen sie die meiste Zeit am Schreibtisch, anstatt sich um die Bedürftigen zu kümmern. In ihrer Kreativität ausgebremst, weil alles vermessen, getaktet und ökonomisiert wird. „Die tatsächliche Arbeit zerstört ihr Menschenbild und die Intension, warum sie einst den Heilerzieherberuf gewählt haben.“ Somit fehlt es vielerorts den Betreuern an Wertschätzung und Selbstverwirklichung und gleichzeitig den Behinderten an Zuwendung und Teilhabe.

Noch gibt es viele hoch engagierte Mitarbeiter, die in verantwortungsvollen und vorbildlichen Einrichtungen arbeiten, doch es braucht dringend Veränderungen, darin sind sich alle einig. Deshalb trafen sich jetzt Vertreter von neun Allgäuer Einrichtungen der Behindertenhilfe, der Bezirkstagspräsident und die Sozialverwaltung zu einem Krisengespräch. Darunter Christine Lüddemann, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Kempten, die der „Schwäbischen Zeitung“ sagt: „Es muss sich einiges ändern – von der Fachkräftequote bis hin zur Gesetzgebung.“ Entsprechend hat der Runde Tisch ein Thesenpapier formuliert, fordert kurzfristig die Entlastung der Fachkräfte, indem geeignete Hilfskräfte Schichten übernehmen und gleichzeitig weiterqualifiziert werden. Außerdem sollen ausländische Kräfte, etwa aus der Ukraine, Sofortförderung erhalten, die Bezahlung angehoben und die Bürokratie abgesenkt werden. „Mitarbeiter wollen am Menschen arbeiten und nicht an der Akte“, sagt Lüddemann, die aber betont: „Wir wollen nicht zurück auf den Stand der 60er-, 70er- und 80er-Jahre, die Qualität der Betreuung muss hoch bleiben.“ Die Regelungswut, die seit den Nullerjahren ausufert, müsste aber zurück auf ein vernünftiges Maß.

Verbesserungen kommen noch kaum an

Verbesserungen für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen soll auch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) bringen, für dessen Umsetzung in Baden-Württemberg allerdings erst eine Übergangsvereinbarung bis 2021 beschlossen wurde und danach eine weitere für die Jahre 2022 und 2023. Die erneute Verzögerung stößt auf Kritik. „Die Veränderungen, die der Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie mit sich bringt, müssen endlich bei den Menschen ankommen“, fordert die Behindertenbeauftragte Fischer. „Sie erleben bisher keine Verbesserungen in ihrem Alltag.“

Ob diese Verbesserungen bei Betroffenen wie dem 25-jährigen Johannes ankommen, bleibt ohnehin im Vagen. Denn Schwerstbehinderte wie er finden, wenn überhaupt, nur mit viel Glück einen Betreuungsplatz, der Aufwand gilt vielen Einrichtungen als zu hoch und unrentabel. „Es tut weh, aber keiner will sie haben“, sagt Armin Richter, der an die gesetzlich verbriefte Würde des Menschen erinnert und fragt: „Aber ist das nicht Theorie?“

In der Praxis bleibt die Liebe zum Sohn, die vielen guten und gemeinsamen Momente, aus denen die Familie ihre Energie schöpft. Nach dem Besuch schickt Heike Richter noch eine Mail, weil sie den Blick nicht allein auf die dunklen Seiten des Daseins richten möchte. „Unser Leben ist sicher nicht euphorisch, aber geerdet“, betont die 61-Jährige. „Ich empfinde es auch nicht als verfehlt, aber als anders. Sehr anders.“