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Windkraftausbau

Dem Nabu-Chef sind die Grünen nicht mehr grün genug

Stuttgart / Lesedauer: 6 min

Nabu-Chef Enssle zur Umweltpolitik der Grünen und wofür sie gewählt wurden
Veröffentlicht:11.10.2022, 05:00

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Naturschutz und Bürgerbeteiligung gelten als grüne Kernthemen. Doch ob Windkraftausbau mit Ausnahmen beim Artenschutz oder Akw-Weiterbetrieb, derzeit scheint mancher grüne Glaubenssatz passé.

Johannes Enssle, Chef des Naturschutzbundes ( Nabu ) in Baden-Württemberg und studierter Förster, über enttäuschte Erwartungen und neue Forderungen.

Herr Enssle, Vorfahrt für Windkraft, Abstriche beim Artenschutz – das scheint der neue Kurs der grün-geführten Landesregierung. Das muss einen Naturschützer doch stören …

Naja, ganz so schwarz-weiß ist es nicht, aber ein bisschen wirkt es manchmal schon so, als ob Windräder derzeit noch die einzige politische Währung sind. Und die aktuelle Debatte um den Landeshaushalt zeigt, wie schnell sich die Prioritäten verschieben können. Es steht zu befürchten, dass die Mittel für den Naturschutz gekürzt werden.

Das Umweltministerium muss zehn Millionen Euro sparen, die Hälfte davon sollen in der Abteilung Naturschutz gestrichen werden. Damit sägen wir an dem Ast auf dem wir sitzen.

Wo soll konkret weniger Geld fließen?

Die Mittel werden fehlen, zum Beispiel für den Schutz von Mooren oder von stark bedrohten Feldvögeln wie Kiebitz und Rebhuhn. Außerdem will die Landesregierung bei der Genehmigung von Windrädern häufiger Ausnahmeregeln anwenden und beim Artenschutz Abstriche machen.

Das ist rechtlich zwar möglich, funktioniert aber nur, wenn im Gegenzug in Artenhilfsprogramme investiert wird. Dafür ist bislang aber kein Geld vorgesehen. Der Bund will da zwar etwas tun, aber das wird bei Weitem nicht ausreichen. Baden-Württemberg muss hier selber aktiv werden.

Wenn in der Ukraine Krieg herrscht, wenn bei uns Heiz- und Energiekosen explodieren – ist dann ein Bodenbrüter oder ein Rotmilan nicht etwa weniger wichtig?

Natürlich leben wir in einer Ausnahmesituation. Aber die Politik gibt gerade so viel Geld aus als gäbe es kein Morgen. Man fragt sich schon, wo das hinführen soll. Ich befürchte, so schlittern wir einfach weiter in die nächste Krise: die Klima- und die Biodiversitätskrise.

Die Auswirkungen des Klimawandels werden brutal sein und alles, was wir bisher erlebt haben in den Schatten stellen. Und der Klimawandel ist ja nicht alles, wir haben es mit einer Zwillingskrise zu tun. Seit Jahrzehnten gehen die Insektenbestände steil nach unten. Wenn aber die Bestäuberinsekten wegbleiben, dann bricht Hunger aus.

Dann brauchen wir uns um den Benzinpreis an der Zapfsäule keine Sorgen mehr zu machen. Verstehen Sie was ich meine? Wenn wir diese Szenarien ernst nehmen – und das sollten wir –, dann dürfen wir nicht am Naturschutz sparen. Wir müssen unser gesamtes auf Wachstum und Verbrauch getrimmtes System umstellen.

Waren Sie denn vorher mit dem Kurs der grün-geführten Landesregierung zufrieden?

Keine Landesregierung in Deutschland hat bislang so viel für den Umwelt- und Naturschutz getan wie die von Kretschmann. Aber jetzt droht das Thema ins Abseits zu geraten. Kretschmann spricht ja gerne von seiner „grünen DNA“. An diese DNA sollte er sich gerade jetzt zurückerinnern.

Die Grünen regieren auch im Bund mit. Temporärer Weiterbetrieb von Atomkraftwerken, Hochfahren von Kohlekraftwerken, Bau von Flüssiggas-Terminals: Naturschutz steht in Berlin derzeit auch nicht an erster Stelle.

Da gibt es schon so manche Zumutung. Mit den Maßnahmen im Osterpaket der Ampel-Koalition wurde der Naturschutz geschwächt. In Windeseile wurde zum Beispiel die Liste der bei der Planung von Windkraftanlagen maßgeblich zu berücksichtigen Arten drastisch reduziert.

Hier ging es klar um politische Maßgaben, man hat sich über fachliche Argumente hinweggesetzt. Und unter dem Deckmantel der Planungsbeschleunigung wird Hand bei den Beteiligung- und Klagerechten von Umweltverbänden angelegt.

Aber tatsächlich dauert es oft sehr lange, bis ein Windrad genehmigt wird. Und wenn Sie das Klima schützen wollen, brauchen Sie auch Energie aus alternativem Quellen.

Wir sind klar dafür, den Ausbau der Windkraft zu beschleunigen. Der Abschaffung des Widerspruchverfahren haben wir in Baden-Württemberg daher zugestimmt. Denn das war sowieso sinnlos. Es hat alles zu lange gedauert.

Zum Teil liegen Anträge und Widersprüche ja sieben Monate und länger bei den Landratsämtern weil niemand darüber entscheidet. Entweder aus Personalmangel oder weil der Verwaltung der Mut fehlt fachlich korrekte, politisch aber vielleicht umstrittene Entscheidung zu treffen. Dann warten die einfach ab, bis überlastete Gerichte darüber entscheiden.

Das ärgert mich sehr. Die Verwaltung macht ihre Arbeit nicht und dem Rotmilan wird dann die Schuld für Verzögerungen in die Schuhe geschoben.

Klagen gegen Großprojekte verzögern diese massiv. Wirtschaftsminister Robert Habeck, ebenfalls ein Grüner, hat zuletzt darum gebeten, nicht gegen den Bau von LNG-Terminals zu klagen, trotz Gefahren für den Schweinswal.

Das ist eine ganz schwierige Äußerung. Er war in Schleswig-Holstein ja selber Umweltminister und weiß, wir Umweltverbände könnten viel öfter klagen, als wir es tun. Aber wir Klagen ja nicht als Volkssport, sondern sind uns unserer Verantwortung durchaus bewusst – Naturschutz, Klimaschutz, andere gesellschaftliche Bedürfnisse, das ist ein großes Spannungsfeld.

Was mich ärgert: Erst verbummeln und blockieren CDU und SPD jahrelang den Klimaschutz, dann kommen die Grünen und haben so viel Handlungsdruck – der ja auch tatsächlich existiert –, dass sie meinen, dafür den Artenschutz schwächen und elementare demokratische Rechte wie die Verbandsklage einschränken zu müssen. Die FDP steht applaudierend daneben und reibt sich die Augen, denn das passt genau in ihre Agenda.

Sind Sie enttäuscht davon, wie die Grünen in Berlin agieren?

Die Grünen regieren ja nicht allein, sondern mit SPD und FDP. Und ich habe trotz aller Zumutungen den größten Respekt vor allen, die in diesen Krisenzeiten politische Verantwortung tragen müssen. In der Haut von Robert Habeck möchte ich derzeit nicht stecken. Aber ich finde die Grünen sind zu nachgiebig.

Ohne Not hat Anton Hofreiter gleich zu Beginn der Koalition das Tempolimit abgeräumt, gekommen ist Lindners Tankrabatt von dem vor allem wohlhabende Vielfahrer mit großen Autos profitiert haben und an dem sich die Mineralölwirtschaft eine goldene Nase verdient hat.

Leider droht bei der Gaspreisbremse das gleiche Debakel wenn die 200 Milliarden mit der Gießkanne verteilt werden. Es macht doch keinen Sinn mit Steuermitteln Gutverdiener zu subventionieren statt gezielt jene zu entlasten, die wirklich in existenzielle Nöte geraten.

Der Nabu versammelt viel grünes Stammklientel. Wie ist die Stimmung da?

Nach meiner Wahrnehmung ist die Stimmung bei vielen unsere Mitglieder ähnlich. Viele haben Schwierigkeiten mit diesem Kurs. Die Politik muss ihr Handeln besser erklären und insbesondere die Grünen dürfen nicht vergessen, wofür sie gewählt wurden. Aber: Unsere 120 000 Mitglieder in Baden-Württemberg sind ja nicht nur Grünen-Wähler. Wir sind ein ganz guter Querschnitt durch die Gesellschaft.