Kräuterzeit
Bock auf Brennessel: Welche Kräuter die Natur uns bietet
Freiburg / Lesedauer: 9 min

- Joshua Kocher
Wer durchhält, wird mit einem Strudel belohnt. Doch erst geht es über wilde Wiesen und schmale Trampelpfade, vorbei an giftigen Blättern und rutschigen Hängen. Ein Weinberg bei Malterdingen, einem Dorf nördlich von Freiburg. Die Natur– und Wildnispädagogin Stefanie Blankenburg, Filzjacke, korbgeflochtene Umhängetasche, stapft durch das Gras, hinter ihr eine Gruppe von zwölf Menschen in Wanderschuhen. Darunter ein junges Paar, zwei grauhaarige Freundinnen, eine Mutter mit Teenie–Tochter.
Bärlauch konnten sie eben in der Vorstellungsrunde alle zuordnen, Löwenzahn noch und Brennnessel natürlich, danach wurde es schwieriger. Drum sind sie ja auch hier: Sie wollen lernen, welche Wildpflanzen sie essen können, wo sie diese finden und wie sie sich dabei am besten nicht vergiften.
Brennnesseln, die nicht brennen
Stefanie Blankenburg bleibt neben einem Büschel Brennnesseln stehen, greift mit bloßen Händen hinein. „Wenn man beherzt mit Daumen und Zeigefinger am Stängel zupackt, dann brennt das auch nicht“, sagt sie und bricht das obere Drittel einer Pflanze ab. Sie hält den Stängel in Runde und streichelt mit dem Zeigefinger in Wuchsrichtung über die Härchen der Blätter. Die Message kommt an: Wer sich auskennt, braucht vor wild wachsenden Pflanzen keine Angst zu haben.
Schafgarbe, Giersch und Spitzwegerich, Brennnessel, Löwenzahn und Gänseblümchen: Sie alle waren lange als Unkräuter verschrien. Gartenbesitzer rissen ihre Wurzeln heraus, spritzten Unkrautvernichter oder ratterten gleich mit dem Aufsitzrasenmäher drüber.
Doch das hat sich geändert. Stadtgärtner begonnen, Wildblumensamen in die Parks zu streuen, einige Bundesländer verboten Schottergärten und neue Gesetze belohnen seither Landwirte, die Blühstreifen neben ihren Feldern anlegen. Und der Trend zum Wildwuchs erreichte auch die Küche.
Anfängerkurse gut besucht
„Vor der Pandemie kamen fast ausschließlich Frauen über 50“, sagt Pädagogin Stefanie Blankenburg, die vor einigen Jahren zusammen mit ihrem Partner eine Wildnisschule gründete. Während der Corona–Lockdowns dann zog es viele Menschen in die Wälder, auf der Suche nach Morcheln, Bärlauch und Fichtennadeln.
Sie wollten wissen, sagt Stefanie Blankenburg, wo eigentlich ihre Nahrung herkommt. Eine Rückbesinnung zur Natur, die Blankenburg in ihren Kursen bis heute bemerkt. „Inzwischen sind immer mehr Männer dabei und auch junge Leute“, sagt sie. „Es ist fast schon ein Hype ausgebrochen.“
Stefanie BlankenburgGanz schön bitter, oder? Ich merke direkt, wie die Verdauung anspringt.
Der Kurs an diesem Mittwochnachmittag im April ist einer für Anfänger. Blankenburg beschränkt sich deshalb auf ein paar wenige essbare Wildpflanzen. Lieber klein anfangen, sagt sie. Blankenburg nennt die Suche nach Wildpflanzen: Gärtnern für Faule. Die Pflanzen wachsen schließlich ohne menschliches Zutun.
Im Kreis auf der Wiese reicht Blankenburg den Brennnessel–Stängel herum. „Reißt euch mal ein Blatt ab“, sagt sie, „rollt es ein und presst es etwas zwischen den Fingern, so zerstört ihr die stachligen Haare, und dann steckt es in den Mund.“ Vorsichtig wagen sich die Teilnehmer an die Blätter, überall schmatzt es. „Das brennt ja gar nicht“, sagt eine Frau.
Was man aus Brennnesseln zaubern kann
Die Brennnessel ist der Star der Wildpflanzen–Szene, so etwas wie der neue Bärlauch. Sie wächst fast überall, vor allem dort, wo viel Stickstoff im Boden ist. Ihre Blätter lassen sich vielfältig einsetzen. Getrocknet — als Tee, der die Niere durchspült und den Körper entgiftet. Gekocht — als nährstoffreicher Spinat–Ersatz. Gehackt — als Grundzutat für Pesto.
In der Küche hilft es, die Ernte mit einem Nudelholz zu überrollen. Oder sie abzukochen. So zerstört man die Brennhaare. Am besten schmecken die Brennnessel–Blätter im Mai, wenn sie noch jung sind, später im Jahr werden sie bitter. Sie enthalten Eisen, Kalzium und Magnesium sowie große Mengen Vitamin C.
Und sogar Eiweiß, was sie laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung als natürlichen Fleischersatz für Vegetarier und Veganerinnen interessant macht. Die Blätter wirken entwässernd und entzündungshemmend, Brennnesseln werden seit Jahrhunderten als Heilpflanzen eingesetzt, so die Deutsche Stiftung für Gesundheitsinformation und Prävention.
Stefanie Blankenburg tritt ein paar Schritte zurück. Hier schießen gelbe Blüten aus dem Boden: der Löwenzahn, den kennt jedes Kind. Blankenburg pflückt eines der zackigen Blätter und knabbert daran. „Ganz schön bitter, oder? Ich merke direkt, wie die Verdauung anspringt.“
Löwenzahn kann man auch essen
Das liegt an den Bitterstoffen, die der Löwenzahn in großen Mengen enthält. Sie gelten als verdauungsfördernd. Daneben enthält die Pflanze Vitamin C, Provitamin A und einige Mineralstoffe. Man kann den Löwenzahn von der Wurzel bis zur Blüte bedenkenlos essen. Einzig der weiße Saft im Stengel kann bei übermäßigem Verzehr zu Bauchschmerzen führen, so die Giftzentrale des Universitätsklinikums Bonn. Dagegen hilft, viel Wasser zu trinken. Ein Klassiker der Wildpflanzen–Küche: Löwenzahnsalat. Dafür die Blätter mit gekochten Kartoffelscheiben vermengen, eine gehackte Zwiebel dazu und mit Essig und Öl marinieren.
Stefanie BlankenburgBeim Pflücken würde ich darauf achten, nur an sauberen Orten zu suchen.
Der Löwenzahn wächst fast überall, auf Bergwiesen genauso wie zwischen Pflastersteinen in der Stadt. „Beim Pflücken würde ich darauf achten, nur an sauberen Orten zu suchen“, sagt Stefanie Blankenburg zu den Teilnehmern des Kurses. Das gilt für alle Wildpflanzen. Weder an vielbefahrenen Straßen noch an stark gedüngten Feldern. „Besser abseits der Wege oder an Hängen, wo kaum jemand hinkommt — auch keine Hunde.“
Die Gruppe läuft weiter. Der Weg führt in einen klassischen Laubwald, voller Buchen, Ahorn und Eichen. Keine einhundert Meter weiter hält Blankenburg wieder an und kniet sich auf den Boden. Zwischen vertrockneten Blättern sprießt eine knallgrüne Pflanze: der Giersch. Den kennt kaum jemand aus der Gruppe.
Das ist das sogenannte Giersch
Blankenburg zählt ihn neben Löwenzahn und Brennnessel zu den drei Alleskönnern unter den Einsteigerpflanzen. Charakteristisch ist seine Dreiteilung: Die zackigen Blätter wachsen immer in Dreiergruppen. Auch der Stängel hat drei Kanten. Es hilft der Merkspruch: „Mit drei mal drei, bist du beim Giersch dabei.“ Er wächst vor allem an feuchten und schattigen Plätzen, am Waldrand, an Bachufern und in Auenwäldern. Oft bleibt er bodennah, kann aber bis zu 80 Zentimeter hoch werden. Im Garten ist er verhasst, denn dort breitet er sich gnadenlos aus.
Rezepte aus der Wildpflanzenküche gibt es inzwischen unzählige, in Kochbüchern, Weblogs und auf Instagram. Oft kommt darin der Giersch vor. Er passt als Spinatersatz in eine Gemüselasagne, in eine Kartoffelsuppe oder statt Petersilie in ein Bulgur–Tabouleh. Er enthält mehr Vitamin C als eine Zitrone und dazu noch Mineralien wie Kalium und Magnesium. „Ich ärgere mich jetzt nicht mehr über den Giersch in meinem Garten“, sagt eine Teilnehmerin, „ich esse ihn einfach“.
Früher wurde das Pflanzen–Wissen von Generation zu Generation weitergegeben, inzwischen helfen Handy–Apps. Stefanie Blankenburg empfiehlt die KI–gestützte Anwendung „Flora Incognita“, entwickelt von Forschern der Technischen Universität Ilmenau. Analogen Pflanzenjäger hilft nach wie vor der Bestimmungs–Klassiker von 1935: „Was blüht denn da?“
Gefahr des Fuchsbandwurms gering
Inmitten eines Bärlauchteppichs spricht Stefanie Blankenburg noch eine andere Gefahrenquelle an: den Fuchsbandwurm. „Mein Bruder wollte mich deshalb letztens vom Bärlauchsammeln abhalten“, sagt eine Teilnehmerin. Es sei so, sagt Blankenburg: Jedes Jahr erkranken ein paar Dutzend Menschen in Deutschland an der Echinokokkose, so heißt die Infektion mit dem Fuchsbandwurm. 2020 gab es laut dem Infektionsepidemiologischen Jahrbuch des Robert Koch–Institut (RKI) 53 bestätigte Fälle. „Keiner dieser Fälle stand jedoch mit dem Sammeln von Wildpflanzen in Verbindung“, sagt Blankenburg.
Vom RKI heißt es, meist erfolge eine Infektion über den Kontakt mit erkrankten Wild– oder Haustieren. Wenn man ganz sicher gehen wolle, sagt Blankenburg, müsste man die gesammelten Pflanzen bei über 60 Grad abkochen. Dabei gingen jedoch viele Inhaltsstoffe verloren. Blankenburg verzichtet deshalb darauf. „Ich habe mich dazu entschieden, mit diesem kleinen Risiko zu leben.“
Ein paar Minuten Fußweg später richtet sie ihren Blick nach oben. Sie greift den Zweig einer Buche, pflückt eines der zarten, grünen Blätter, steckt es sich in den Mund und kaut darauf herum. „Kostet das auch mal“, sagt sie in die Runde. Wieder allgemeines Schmatzen. Der Geschmack ist leicht säuerlich, fast schon zitronig. „Das könnt ihr einfach in die Salatschüssel werfen oder ein Butterbrot damit garnieren“, sagt Blankenburg. „Noch viel besser schmecken aber die Blätter der Linde“, sagt Blankenburg. Auch andere Bäume eignen sich für die Küche: Fichtennadeln zum Beispiel enthalten viel Vitamin C und können zu Fichtenspitzenpesto verarbeitet werden.
Kostenlos und gesund essen
Hier gilt jedoch, wie bei allen Wildpflanzen: Nicht alle Triebe wegpflücken. Wo wenig da ist, sollte auch weniger gepflückt werden. Der Deutsche Alpenverein hat folgende Faustregel: „Nachfolgende sollten nicht sehen, dass an diesem Ort gesammelt wurde.“ Laut Bundesnaturschutzgesetz dürfen wilde, nicht unter Naturschutz stehende Pflanzen „in geringen Mengen für den persönlichen Bedarf“ gepflückt werden. Eine vage Formulierung, doch die Botschaft ist klar: Die Grenze zur Illegalität verläuft dort, wo man große Mengen erntet.
Im Weinberg beginnt es zu nieseln. Die Gruppe läuft etwas schneller. Zurück am Wanderparkplatz läuft Blankenburg zu ihrem Auto, holt einen Korb aus dem Kofferraum und ein Tablett, das mit einem Geschirrtuch verdeckt ist. Sie trägt beides an einen Holztisch und zieht das Tuch weg. „Das sieht aber lecker aus“, sagt eine Teilnehmerin. Unter dem Geschirrtuch liegt ein langer Teigfladen, umrahmt mit den Blüten von Löwenzahn und Veilchen, garniert mit kleinen Samenkörnern: ein Wildkräuterstrudel.
Blankenburg schneidet den Strudel an, er ist gefüllt mit einer grünen Masse aus Giersch und Brennnessel, dazu etwas Feta. Die Samen auf der Oberseite stammen vom Dost und der Nachtkerze. Die Zutaten hat Blankenburg fast alle im Wald gesammelt, „kostenlos und gesund“.