Lehrermangel

Bildungsforscherin mit Reformidee: So kommt schnelle Hilfe an die Schule 

Stuttgart / Lesedauer: 6 min

Anne Sliwka ist Beraterin der Kultusministerin von Baden-Württemberg. Die Bildungsforscherin hat eine Idee gegen den Mangel an Lehrern und Förderkräften in Schulen.
Veröffentlicht:03.02.2023, 18:45

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Der Lehrkräftemangel ist bundesweit dramatisch. Laut Ständiger Wissenschaftlicher Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz wird dieser noch bis zu 20 Jahre andauern.

Gleichzeitig sinken die Leistungen der Schüler kontinuierlich, wie Bildungsstudien bestätigen. Allein in Baden-Württemberg kann jedes fünfte Grundschulkind nicht richtig lesen, schreiben und rechnen.

Die Heidelberger Bildungswissenschaftlerin Anne Sliwka hat eine Idee, um schnell mehr Experten in die Klassenzimmer zu bekommen, wie sie im Interview erläutert. Die 53-Jährige, die dem wissenschaftlichen Beirat von Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) angehört, schlägt ein duales Lehramtsstudium vor.

Die SWK schlägt vor, dem Lehrermangel vor allem durch Mehrarbeit der Lehrer zu begegnen – etwa durch weniger Teilzeitmöglichkeiten, höhere Stundenzuweisungen, Unterricht für mehrere Klassen gleichzeitig dank Videoübertragung und mehr Schüler pro Klasse. Die Kritik der Lehrer ist massiv. Ist das der richtige Weg?

Ich denke nicht. Die Profession ist ohnehin nicht zeitgemäß aufgestellt. Die Schulen sind im internationalen Vergleich nicht sehr gut ausgestattet, es fehlt an verwalterischem und technischem Support, Corona war extrem belastend.

Und jetzt will man der Lehrerschaft noch auferlegen, dass sie den Mangel durch noch mehr Arbeit auffangen soll? Es geht nicht darum, eine kurze Zeit zu überbrücken. Die Geburtenkohorten, die jetzt an die Hochschulen kommen, sind relativ klein im Verhältnis zu denen der Kinder, die in die Schulen kommen.

Die SWK spricht selbst von einem Problem der nächsten zehn bis 20 Jahre. Das lässt sich auch nicht mit Quereinsteigern überbrücken. Man muss den ganzen Beruf attraktiver machen, grundlegend neu denken und nicht versuchen, aus einer ausgepressten Zitrone noch mehr Saft herauszuquetschen.

Was schlagen Sie vor?

Ich plädiere für ein duales Lehramtsstudium. Die leistungsstärksten Bildungssysteme der Welt haben duale Elemente – etwa Singapur und Finnland. In Singapur verbringen Lehramtsstudierende etwa die Hälfte der Zeit in einer Schule und bekommen – nach und nach – immer mehr Aufgaben übertragen.

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Zunächst sind sie die zweite oder dritte Kraft im Raum, nach einer Zeit werden sie in der Förderung von Kleingruppen eingesetzt. Das ist eine sehr effektive Art, Schüler durch Lese- und Rechtschreibtraining oder mit Übungen zu Zahlen- oder Mengenbegriffen zu fördern.

Die jüngsten Studien des Bildungsforschers John Hattie zeigen eine hohe Effektstärke der Kleingruppenförderung mit maximal fünf Schülern.

Das schwebt Ihnen auch für Baden-Württembergs Schulen vor?

Genau. Mit dem Modell könnte man mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wir brauchen nicht nur dringend Lehrkräfte, sondern auch Förderkräfte. Es gibt beträchtliche Gruppen an Schülern, die einen Förderbedarf in den Basiskompetenzen haben.

Die dual Studierenden sind keine Lückenfüller. Man könnten sie aber nach einem halben Jahr als Förderkräfte einsetzen – und damit auch die Lehrkräfte entlasten. Im Laufe der Jahre würden sie in den Team-Unterricht reinrutschen und irgendwann allein vor einer Klasse stehen.

Wie soll dieses Studium aussehen?

Die Not an den Schulen ist so groß, dass wir mit dem Bachelor einsteigen sollten, um schnell Förderkräfte und perspektivisch mehr Lehrer in den Bereichen zu haben, in denen der Mangel besonders groß ist: Grundschullehramt, Sonderpädagogik, Mangelfächer in den weiterführenden Schulen.

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Anne Slwika, Professorin aus Heidelberg und Beraterin der Kultusministerin von Baden-Württemberg. (Foto: Universität Heidelberg)

Man könnte über Zulagen die Lehrerversorgung steuern, indem man mehr zahlt, wenn jemand im ländlichen Raum oder an Brennpunktschulen eingesetzt wird. Von einer dualen Ausbildungsstruktur könnten daher gerade Schulen im ländlichen Raum profitieren. Man könnte einen Teil der Lehrveranstaltungen digital anbieten – wie es etwa Kanada, Neuseeland und Australien längst tun.

Wenn jemand auf der Schwäbischen Alb an der Schule ist, könnte er auch abends einen digitalen Kurs belegen, zudem tageweise an der nächstgelegenen Hochschule studieren und vielleicht Blockveranstaltungen in den Ferien wahrnehmen. Dadurch wären wie etwa in Finnland Theorie und Praxis besser verschränkt.

Was die Studierenden morgens in der Schule erlebt habe, können sie am Nachmittag im Seminar diskutieren.

Anne Sliwka

Was sie an der Hochschule lernen, bringen sie nicht erst Jahre später, sondern unmittelbar in den Unterricht ein.

Welchen Reiz hätte ein duales Studium für junge Menschen im Vergleich zum normalen Studium?

Duale Studiengänge ziehen leistungsstarke Bewerber aus der unteren Mittelschicht an, weil sie Geld verdienen und sich so das Studium finanzieren können. Sie bekommen sofort Praxiserfahrung, viel mehr als im normalen Studium.

Dadurch merken sie schnell, ob es der richtige Beruf ist, nicht erst nach fünf oder sechs Jahren im Referendariat. Die Studierenden würden einen Vertrag mit dem Land und einer konkreten Schule abschließen und wären dann immer an dieser Schule.

Und was bringt das dem Land?

Zunächst schnell mehr Hilfe an die Schulen. Mit einer weiteren Kraft könnten auch mehr Schüler in einer Klasse sein. Die Orientierung erfolgt zudem in beide Richtungen: Der Studierende kann zu dem Schluss kommen, dass dies nicht der richtige Beruf ist, aber auch die Schule kann sagen, die Person ist nicht geeignet.

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Der Vertrag kann von beiden Seiten gekündigt werden. Die Realität im Moment ist, dass das Land in Mangelbereichen jeden einstellen muss – selbst wenn jemand sein Mathe-Studium mit einer 4- abgeschlossen hat. Durch die schnelle Praxiserfahrung könnte auch die hohe Abbrecherquote sinken, weil die Leute langsam an den eigenständigen Unterricht herangeführt werden.

Wie schnell könnte ein duales Lehrerstudium starten?

Modellversuche gemeinsam mit interessierten Hochschulen könnten schon zum nächsten Schuljahr starten. Auf Basis der Erfahrungen könnte das duales System bedarfsgerecht ausgeweitet werden. Baden-Württemberg ist ohnehin Vorreiter beim dualem Studium, warum nicht auch hier?

Wir müssen wirklich neu denken, denn wir können es uns nicht leisten, Generationen nicht angemessen zu beschulen – gerade in einer Zeit, in der sich die Berufswelt durch Automatisierung, Künstliche Intelligenz und Digitalisierung in einer gigantischen Transformation befindet. Investitionen in die Bildung sind Investitionen in den Wirtschaftsstandort.

Wenn man diese jetzt nicht tätigt, muss man es später für Weiterqualifikation und Transferleistungen tun. Wie der Wirtschaftsnobelpreisträger James Heckman dargelegt hat, ist das deutlich teurer als in die Grundbildung zu investieren.