Schlecker
Der Schlecker-Prozess: Bankrott einer Familie
Baden-Württemberg / Lesedauer: 9 min

Stoisch blickt Anton Schlecker ins Nichts, als der Vorsitzende Richter Roderich Martis das Urteil verkündet. Zwei Jahre Haft, ausgesetzt auf Bewährung. Gerade so am Gefängnis vorbeigeschrammt. Erleichterung? Im Gesicht des 73-Jährigen zeigt sich keine Regung. Auch dann nicht, als der Richter das Urteil für seine Kinder verkündet. Haft für beide, keine Bewährung. Lars muss zwei Jahre und neun Monate ins Gefängnis, seine Schwester Meike einen Monat weniger.
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Die Verlesung der Urteilsbegründung dauert knapp drei Stunden. Der frühere Chef des bankrotten Drogeriekonzerns bewegt sich kaum – außer ein Mal, als sein Handy klingelt. Er stellt es stumm und blickt wieder stoisch zum Richtertisch.
Sein Sohn Lars beugt sich mal zum einen, mal zum anderen Anwalt, um mit ihnen flüsternd einige Worte zu wechseln. Dann dreht sich der 46-Jährige zu seiner Schwester Meike um und spricht ein paar Worte. Sie sitzt meist bewegungslos da, schüttelt nur hin und wieder den Kopf – mal fast unmerklich, mal vehement. Ab und an fährt sich die 44-Jährige mit der Hand über die Augen. Vielleicht, um sich eine Träne abzuwischen.
Der Absturz begann weit vor dem 20. Januar 2012
Schlohweißes Haar, eingefallene Wangen, das Gesicht fahl und zerknittert. Der einstige Drogeriekönig ist alt geworden. Nicht erst seit Prozessauftakt, sein Absturz begann früher. Viel früher. Nicht am 20. Januar 2012. An dem Tag kündigte der Einkaufsverbund Markant, über den Schlecker 90 Prozent seiner Waren bezog, die Zusammenarbeit mit Europas größtem Drogeriekonzern auf. Und an jenem Freitag konnte selbst Anton Schlecker nicht mehr die Augen davor verschließen, dass irgendetwas gewaltig schief gelaufen war im Reich des Patriarchen.
Irgendwann in den Tagen, Wochen und Monaten danach muss der Alterungsprozess eingesetzt haben, der aus dem machtbesessenen Unternehmer den stillen, in sich gekehrten und kraftlosen Angeklagten gemacht hat, über den Richter Martis am Montag sein Urteil sprach. Und irgendwann in der Zeit nach der Insolvenz vor mehr als fünf Jahren muss auch Anton Schlecker eingesehen haben, dass es endgültig vorbei war, sein Imperium nicht zu retten war, wie Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz in den ersten Tagen der Pleite noch dachte.
Bis zu 50 000 Beschäftigte
Das ist jedenfalls die Geschichte, die die Verteidiger von Anton Schlecker im Laufe der 28 Prozesstage zu erzählen versucht haben. Die Geschichte des aus der Zeit gefallenen Unternehmers, der bis zuletzt glaubte, die richtigen Entscheidungen für sein Unternehmen treffen zu können. Auch wenn das aus heutiger Sicht so abstrus wie weltfremd wirkt: So steuerte Anton Schlecker seinen Konzern, der zu Spitzenzeiten mehr als 50 000 Mitarbeiter in 15 000 Filialen in 17 Ländern beschäftigte und einen Umsatz von rund sieben Milliarden Euro erwirtschaftete, ohne elektronisches Warenwirtschaftssystem zur Kontrolle.
Den Grundstein für sein Imperium legte der Unternehmer Mitte der 1970er-Jahre – und an den damals gewählten Methoden hielt er bis zum Ende eisern fest. „Wir dürfen Anton Schlecker nicht für sein unternehmerisches Scheitern bestrafen“, hatte sein Verteidiger Norbert Scharf in seinem Plädoyer vor Wochenfrist gesagt.
Ein Pleite ist nicht strafbar, Bankrott schon. Genau das warfen die Staatsanwälte Christoph Buchert und Thomas Böttger Anton Schlecker „in einem besonders schweren Fall“ vor. Der gebürtige Ehinger sei eben nicht der beratungsresistente, überhebliche und realitätsfremde Kaufmann gewesen, sondern im Gegenteil bauernschlau und betrügerisch.
Ein Unternehmensführer, der sehr wohl weit vor dem 20. Januar 2012 um das Ausmaß des von ihm verursachten Schlamassels wusste und vor dem Ende mit Tricks und Gaunereien eine möglichst große Summe aus dem in den Ruin schlitternden Konzern für sich und seine Familie abzweigen wollte.
Schlecker wird nicht als der Betrüger dargestellt
In ihrem Urteil, das die elfte große Wirtschaftskammer des Landgerichts Stuttgart nun fällte, ist Anton Schlecker aber nicht der bauernschlaue Betrüger, als den ihn die Staatsanwaltschaft hinstellte. „Er hat sein ganzes Leben lang gearbeitet und hat sich nichts zuschulden kommen lassen“, sagte Richter Roderich Martis – kein Steuerbetrug, keine Konten im Ausland. Schlecker habe sehr wohl gewusst, dass sein Imperium zerfällt. Spätestens am 1. Februar 2011, also ein Jahr vor dem Insolvenzantrag, muss ihm das laut Martis klar gewesen sein. Er habe nicht daran geglaubt, dass es weitergehen würde, sondern nur darauf gehofft, dass sein Lebenswerk fortbestehen würde. Den vorsätzlichen Bankrott sieht das Gericht als erwiesen an – wenn auch nicht in besonders schwerem Fall und auch nicht verbunden mit Gewinnsucht, wie die Staatsanwaltschaft argumentiert hatte.
Vor zwei Wochen, am drittletzten Prozesstag, hatte der Angeklagte genau das zum Teil eingeräumt. Und er erklärte, dass er die Folgen der Insolvenz für die Mitarbeiter bedauere. Vor allem aber gewährte er Einblicke in sein Innenleben, auf das Arbeitsethos und die Härte, die er gegen sich selbst und gegen seine Mitarbeiter walten ließ. „Lamentieren nützt nichts. Das war in meinem Leben schon immer so“, sagte Anton Schlecker am 13. November.
Vom Vater angetrieben
Lamentiert hat Schlecker nie, sondern immer geschafft und geackert. Angetrieben vom Vater, der eine Metzgerei in Ehingen zu einem Großbetrieb ausbaut, macht Anton Schlecker mit 21 seinen Meister und ist der jüngste Metzger im Südwesten. Doch die Übernahme des elterlichen Unternehmens genügt ihm nicht.
1974 eröffnet er ein Warenhaus in Kirchheim/Teck und nutzt den Fall der Preisbindung 1975 für die Expansion. Bereits 1977 ist der Metzgermeister Herr über mehr als 100 Drogeriemärkte. Sein Erfolgsrezept: der Preis. Es gewinnt immer der, der billiger ist. Je mehr Märkte ich habe, desto bessere Preise bekomme ich – und mit jeder Filiale vergrößert Schlecker seine Marktmacht. Bis das von Ehingen geleitete Imperium um die Jahrtausendwende rund 15 000 Geschäfte zählt.
Doch obwohl der Umsatz auch in den Jahren danach noch wächst, beginnen die Kunden den Filialen den Rücken zu kehren. Schlecker gilt im Gegensatz zu Rossmann, dm und Müller als rückständig, die Geschäfte sind dunkel, verwinkelt und eng. Der Konzern arbeitet mit ungelernten Kräften, meist Frauen, die oft schlecht bezahlt sind. 2009 wird bekannt, dass der Konzern Stammkräfte entlässt, um sie als billigere Leiharbeiter wieder einzustellen. Irgendwann sind es nur die Verluste, die von Monat zu Monat wachsen.
Schlecker will die Tatsachen nicht erkennen
Doch in Ehingen im Herz des Firmenimperiums verschließt Anton Schlecker vor den immer offensichtlicher werdenden Schwierigkeiten die Augen. Von Führungskräften, die sich gegen die Entwicklung stemmen, trennt sich Anton Schlecker. Der Konzern bin ich, so das Credo des Patriarchen.
Es ist Meike Schlecker, die an dem Freitag im Januar 2012, fassungslos ihren Vater anruft. „Papa, die lassen uns fallen.“ „Die“ ist der Einkaufsverbund Markant, er verweigert ein Darlehen. Schlecker kommt an keine Waren mehr. Der Konzern ist am Ende. Es ist der Zeitpunkt, als der Patriarch seine Macht verliert, und Insolvenzverwalter, Richter und Staatsanwälte in der Ehinger Konzernzentrale die Macht übernehmen. Die Kinder von Anton Schlecker, vor allem Tochter Meike, rücken in den Monaten danach ins Zentrum der Krise. „Sie haben nichts verstanden: Es ist nichts mehr da“, schleudert sie wenige Tage nach der Insolvenz Journalisten entgegen.
Renditen trotz drohender Insolvenz
Ein Satz, der der Tochter des Patriarchen nachhängen wird, bis in den Gerichtsaal des Stuttgarter Oberlandesgerichts. Meike Schlecker bezog ihn darauf, dass kein Geld mehr da war für eine grundlegende Umstrukturierung des Konzerns. Die Welt verstand den Satz anders, dass nämlich bei den Schleckers nichts mehr da war. Keine Villa in Ehingen, kein Porsche, keine Wohnungen in London und Berlin.
In der Folge dreht sich die Diskussion um die Tochterfirma Logistik- und Dienstleistungsgesellschaft (LDG) – Inhaber Lars und Meike Schlecker. Die LDG stellt dem Mutterkonzern völlig überhöhte Stundensätze in Rechnung. Zu einem Zeitpunkt, als Schlecker schon die Insolvenz droht, erwirtschaftet die Tochter atemberaubende Renditen. Vor allem aber: Drei Tage vor dem Tag X, dem Ende, dem Aus, lassen sich Meike und Lars Schlecker per Blitzüberweisung sieben Millionen Euro an Gewinnen der LDG ausbezahlen.
Vermögenswerte weggeschafft
Diese Blitzüberweisung ist auch einer der Hauptpunkte der Anklage, die die Staatsanwälte am 13. April 2016 erheben. Insgesamt geht es um 36 Fälle, in denen die Familie Vermögenswerte beiseite geschafft haben soll. Mal ist es die Villa in Ehingen, die Anton 2009 an seine Frau überträgt. Dann ein Haus, das Meike von ihrem Vater bekommt. Lars erhält dafür eine schicke Wohnung in Berlin-Mitte. Jeder der vier Enkel wird vom Patriarchen mit 200 000 Euro bedacht. Dem gegenüber steht eine Rechnung, die Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz im Juli 2012 aufmacht: Anton Schlecker schuldet 22 380 Gläubigern insgesamt 1,075 Milliarden Euro. Der Summe gegenüber stehen insgesamt 14,1 Millionen Euro, die die Schleckers als „Wiedergutmachung“ zahlen.
Umarmen nicht gestattet
Doch auch mit diesen Zahlungen können Lars und Meike Schlecker die Blitzüberweisung nicht aus der Welt schaffen, sie ist es, mit der Roderich Martis am Ende die Haftstrafen gegen die Kinder des Patriarchen begründet. Beide müssen ins Gefängnis. Das Gericht sah bei ihnen Untreue und vorsätzlichen Bankrott, vorsätzliche Insolvenzverschleppung und Beihilfe zum Bankrott ihres Vaters als erwiesen an. „Man hat versucht, alles beiseitezuschaffen“, so Richter Martis.
Als Richter Martis seine Urteilsbegründung beendet hat, will Anton Schlecker zu seiner Tochter gehen, doch die schüttelt kurz, aber bestimmt den Kopf. Ihr Vater versteht: nicht näherkommen, nicht umarmen. Er nickt und wendet sich ab. Meike Schlecker ringt mit der Fassung. Sie will vor dem Publikum nicht weinen und muss es doch. Sie wartet, Minute um Minute. Fährt sich immer wieder mit der Hand über die Augen, bis sie Kraft hat, sich umzudrehen und umringt von Familie und Anwälten am Pulk der Journalisten vorbei aus dem Saal zu gehen.