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Inangriffnahme

Wohnen und Arbeiten kostete in Wangen viel Wald

Wangen / Lesedauer: 5 min

Teil 21 der Stadtserie „1200 Jahre Wangen“ – Heute: Große Wohn- und Industrieprojekte
Veröffentlicht:22.12.2015, 19:03

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Der innerstädtische Riss hatte seit Mitte der 1960er-Jahre zu einem Stillstand bei der Inangriffnahme von Großprojekten geführt. Die einzige größere Baumaßnahme war bis dahin die Bebauung der Epplingser Halde durch die Baugenossenschaft Wangen gewesen. Doch war mit diesem neuen Stadtteil der Wohnungsmangel längst nicht behoben. Bald nach der Amtseinsetzung des neuen Bürgermeisters beschloss der Gemeinderat am 30. Juni 1969 einstimmig die Aufstellung des Bebauungsplans Waltersbühl II, der von Jörg Leist als eine „Angelegenheit von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung der Stadt Wangen“ bezeichnet wurde.

Überplant wurde jetzt ein 38Hektar großes Baugebiet zwischen der Ravensburger Straße, der Praßbergsiedlung und Waldgrenze. In Wangen fehlte es zu dieser Zeit an Mietwohnungen, was zu einer Einpendler-Zahl von rund 3000 Arbeitskräften geführt hatte. Damit konnte nach mehreren Jahren der Stagnation auf dem Wohnungsbausektor ab 1971 wieder erstmals in größerem Rahmen gebaut werden. Zudem sollte im Bereich der Ako-Ansiedlung eine Industriezone und bei der Praßbergschule eine Grünzone für die Schul-Sportstätten ausgewiesen werden.

Die schwierige Aufgabe, alle Grundstückeigentümer unter einen Hut zu bringen, gehörte zu den großen Leistungen des jungen Bürgermeisters. Bei der Bauland-Erschließung dieses Geländes ging die Stadt den Weg, dass sie die Fläche an die Baulandkreditgesellschaft in Frankfurt verkaufte, die ihrerseits die Bauplätze fertig erschlossen an die Bauinteressenten weiterverkaufte.

Relativ günstige Baulandpreise

Diese Groß-Erschließungsmaßnahme hatte den Vorteil, dass für die Bauwilligen relativ günstige Baulandpreise zustande kamen. Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass nun die am Stadtrand gelegene Wittwais-Siedlung ihre städtebauliche Anbindung fand. Noch wichtiger aber war, dass die Wittwais-Siedlung damit an eine zu erstellende Kanalisation angeschlossen werden konnte. Durch die Konkurrenz der Baulandkreditgesellschaft zur Baugenossenschaft, vor allem aber durch die notwendige Umsiedlung der Gartenanlage waren bei diesem Großprojekt auch manche Gerüchte und schwierige Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Mit der Einrichtung einer Gartenanlage in der „Argenau“ bei Beutelsau konnte für die bisherigen „Grabeländer“ ein Ausgleich mit wesentlich höherer Freizeit-Aufenthaltsqualität geschaffen werden.

Im wachsenden Industriegebiet nördlich des Bahnhofs war die schwierige Planung für die Trassierung eines Industrie-Stammgleises bis zur Firma Edel ziemlich weit gediehen. Da sich die Gütertransporte seit den 1970er-Jahren immer mehr vom Gleis auf die Straße verlagerten, kam es jedoch nicht mehr zur Realisierung dieses Großprojekts.

Der zweite industrielle Entwicklungsbereich Wangens lag im Bereich des ehemaligen Zellstoffwerks auf dem Atzenberg. Um dort ausreichend Industriefläche vorhalten zu können, musste 1970 der Ausgriff in den Atzenberger Wald erfolgen. Während die Ausstockungsarbeiten für rund zehn Hektar Wald am Laufen waren, regte sich der Anwohnerprotest vonseiten der Atzenbergsiedlung. Bürgermeister Leist verteidigte in der Gemeinderatsitzung vom 13. Mai 1970 die Notwendigkeit einer schleunigen Bereitstellung von erschlossenem Gewerbe- und Industriegelände. Das Atzenberger Industriegebiet verfügte über einen Gleisanschluss.

Um die Erschließungsmaßnahmen für das Gebiet Atzenberg wirtschaftlich gestalten zu können, müsse konsequent eine Vergrößerung der nutzbaren Fläche angestrebt werden. Dies jedoch, meinte der Bürgermeister, könne nur durch eine „Teilausstockung des Atzenbergwaldes geschehen“. Die Stadt ließ sich diesen Waldverlust einiges kosten. Zum Ausgleich war ein bedeutender Teil des angrenzenden Geländes über der bayerischen Landesgrenze auf der Gemarkung Wohmbrechts angekauft worden. Dort wurde die Waldfläche nicht nur im vollen Umfang mit 40000 Jungbäumen verschiedenster Nadel- und Laubholzarten ersetzt, sondern ein zusammenhängendes Wald- und Erholungsgebiet geschaffen. Mit der Aufstauung des Nanzenberg-Weihers wurde außerdem ein wertvolles Biotop geschaffen und mit dem Bau einer Grillhütte eine naturnahe Aufenthaltsmöglichkeit. Die nachfolgenden Firmenansiedlungen auf dem 25 Hektar großen Industriegebiet zeigen den Weitblick und die Bedeutung des damaligen Bebauungsplans für die Wirtschaft Wangens. Anzuführen sind die Bolz-Edel-Gruppe, Armatec FTS, Pumpenfabrik Wangen, Beckmann (Gewächshäuser/Gartenartikel, Mendel GmbH (Stanztechnik), Adoma (Kunststoffverarbeitung/ Werkzeugbau), Herbert Grunwald GmbH (Maschinenbau), Wanner (Maschinenbau), Zoller+Fröhlich (Elektrotechnik), Biedenkapp Stahlbau GmbH, und viele mehr.

Wie bei der Abholzung des Atzenberger Waldes gab es auch „Ausstockungen“ im Bereich der Stadtmitte. So fiel im Januar 1968 das Gasthauses Löwen mit seinem großen Saal der Spitzhacke zum Opfer. An diesem einstigen kulturellen Zentrum Wangens hafteten besonders viele Alt-Wangener Erinnerungen, weshalb der Abbruch viele Menschen emotional berührte. Der neue Sparkassenbau war ein architektonischer Spagat zwischen Moderne und Anpassung an die historische Umgebung. Durch die dominierenden Satteldachflächen wurde ein krasser Kontrast verhindert, mit denen andernorts moderne Geschäftsbauten das gewachsene Gefüge sprengten. Der Bau versteckt seine Modernität nicht und passt sich rücksichtsvoll mit seinen gestaffelten Spitzgiebeln in die historische Struktur ein. Nach 20 Jahren Erfahrung in der Altstadtsanierung äußerte Leist hierzu: „Trotzdem bin ich noch heute überzeugt, dass der seinerzeitige Bau, gemessen an den Zeitumständen, hohes Lob verdiente. … Im Sinne des Ganzen – Städtebau ist nicht nur Ästhetik – war es damals vor über 20 Jahren richtig, den Magnet Sparkasse an die gewählte Stelle zu setzen. Die ganze Altstadt hat strukturell von dieser Entscheidung profitiert.“

Kurz nach der Fertigstellung des neuen Sparkassenbaus wurde im Mai 1970 das Lindauer Tor renoviert. Der Torvorbau wurde mit dem Wangener Wappen-Steinrelief des Steinmetzes Theodor Tronsberg bereichert und das Uhren-Ziffernblatt durch eine Sgraffito-Arbeit von Toni Schönecker erneuert. Die Fassade wurde farblich neu gefasst und mit der Neubemalung der angrenzenden historischen Gebäude zu einem kräftigen Farbmehrklang zusammenkomponiert. Damit war die Martinstor-Sparkassenfront zu einem begehrten Farbpostkarten-Motiv geworden. Der 1970 vor dem neuen Kreissparkassenbau errichtete „Europa-Stein“ aus poliertem Tiroler Serpentingestein von Elmar Daucher (1932 bis 1989) ist als Bekenntnis zum Gedanken der Einheit Europas zu verstehen.