Esel statt Lamas
Auf Kuschelkurs: Mit Eseln durch das Allgäu wandern
Wangen / Lesedauer: 7 min

Svenja Helfers
Sancho trottet gleichmäßig neben dem Rollstuhl her. Seine kleinen Hufe klappern über den Asphalt, sein Kopf hängt entspannt und wippt im gemächlichen Takt seiner Schritte. Mit seiner samtigen Nase stupst er immer wieder die Person am anderen Ende seines Führstricks an: Simone.
Simone sitzt im Rollstuhl, sie spricht nicht – aber sie grinst, mit jedem Stupser des Esels. Es wirkt, als würde Sancho ihr vermitteln: Wir verstehen uns.

„Sie suchen immer Körperkontakt und sind sehr zärtlich, dieses ausgeglichene Gemüt gibt einem so viel Ruhe“, beschreibt die 50-jährige Tanja Schulze das Wesen ihrer Esel. Auf ihrem Hof in Wangen im Allgäu leben zurzeit neun Esel, mit denen sie Trekkingtouren anbietet.

Mitmachen kann jeder, der sich nach Entschleunigung sehnt, da Esel einen im Hier und Jetzt halten, erklärt Tanja. Besonders gut eignen sich die Tiere auch, um taktile Reize zu fördern, also alles, was den Tastsinn betrifft. Das sei mitunter der größte Unterschied zu Lamas und Alpakas, mit denen zurzeit vermehrt Wanderungen angeboten werden, sagt die 50-Jährige.
Während Esel die körperliche Nähe zu Artgenossen und Menschen suchen, bleiben Lamas und Alpakas lieber auf Distanz, auch untereinander. Aufgrund dieser Eigenart von Eseln sind regelmäßig Gäste aus dem Sigmarszeller Ferienhaus für Menschen mit Behinderung auf den Touren dabei.
Zwischen den Eseln geht auch mal das Zeitgefühl verloren
An diesem Morgen geht eine Gruppe von ihnen mit Tanja und drei Eseln wandern. Dafür wird erstmal einiges vorbereitet: Zu Beginn erhält die sechsköpfige Reisegruppe einen Crashkurs. Anhand eines Esel-Stofftiers erklärt Tanja, wie mit den Tieren umzugehen ist. „Wenn sie sich erschrecken, dann wegen Sachen, die wir gar nicht wahrnehmen. Gell, Daniel?“ Dass die 50-Jährige gar nicht alle aus der Gruppe kennt, wird erst im Laufe des Tages deutlich – sie spricht mit ihnen wie mit alten Bekannten.
Danach holt Tanja die Esel Sancho, Emil und Jakob von der Weide und bindet sie am Stallgebäude an. Um die drei herum entwickelt sich ein reges Treiben. Tanja verteilt aus alten Jeans genähte Taschen, in denen sich die Striegel befinden. „Das ist wie mit Zahnbürsten, jeder hat sein eigenes Zeug!“ Die Gruppe darf die Esel allein putzen.
Mit Hilfe eines Betreuers stemmt sich auch Simone aus ihrem Rollstuhl, um Sancho zu bürsten. Dieser bleibt gelassen stehen. Seine locker angelegten Ohren deuten darauf hin, dass er entspannt ist, erklärt Tanja. Zeitdruck gibt es hier keinen. „Mein schönstes Lob ist immer, wenn jemand fragt ‚Wie spät ist es eigentlich?‘“, berichtet Tanja. Irgendwann stehen alle ausgehbereit in der Hofmitte. Als die Gruppe den Hof verlässt, beschwert sich ein bleibender Esel lautstark von der Weide – er möchte mit, übersetzt die 50-Jährige.
Weg vom Hof und rein in die Allgäu-Idylle
Vorbei am nörgelnden Zuhause-Bleiber geht es in die Wiesen-Landschaft des Allgäus. Parallel zur Straße, auf der die Wandergruppe spaziert, schlängelt sich ein plätschernder Bach. Vereinzelt säumen Bäume den Weg, im Hintergrund erheben sich hellgrün bewachsene Hügel. Zwischen dem gelegentlichen Schnauben und Hufklappern der Esel summt und zwitschert es auf der Wiese und aus den Bäumen.

„Ich kann immer vom Hof starten und habe viele unterschiedliche Wanderrouten“, beschreibt sie. „Und die Wege sind befestigt, das ist der Vorteil für Rollstühle, Kinderwägen und Leute, die nicht gut zu Fuß sind.“ Anfangs habe sie noch gedacht, sie müsse Tiere und Menschen mit Auto und Anhänger an andere Orte im Allgäu fahren, an denen es „spektakulärer“ ist.
Der erste Esel kam durch Straßenmusik zu Tanja
Das meiste stellte Tanja sich zu Beginn anders vor. So wollte sie auch eigentlich Reittherapie anbieten, ihre Wahl fiel allerdings auf Eseltrekking. Damals lebte ein „Beistellesel“ des Pferdes von Tanjas Tochter bei ihnen. Sie war es auch, welche den Esel zur Familie holte. „Sie hat sich ihn mit Straßenmusik erspielt“, erinnert Tanja sich zurück.
Dieser Esel lebt bis heute auf ihrem Hof. „Der hat mich damals nur geärgert und nicht gemacht, was ich wollte“, berichtet sie. Dann schimpfte ihre Tochter: „Das ist ein Esel und er will auch so behandelt werden!“ Sich auf das Tier einzulassen, hat einiges mit Tanja gemacht: „Ich habe gelernt, auch mal Fünfe gerade sein zu lassen.“ Diese positiven Erlebnisse möchte sie nun auch anderen Menschen mit ihren Wanderungen nahebringen

Auch „Problem-Esel“ finden auf dem Hof ein Zuhause
„Immer zu zweit am Esel!“, ruft Tanja. Die Ferienhaus-Gäste gehen links und rechts von den Tieren. Sancho, auf dessen anderer Seite Tanja läuft, trottet gleichmäßig auf Höhe von Simones Rollstuhl. Das Gespann führt die Gruppe an. Nur, wenn die anderen Esel oder Menschen bummeln und der Abstand zu groß wird, bleibt Sancho stehen.
Meist versucht er, sich die Wartezeit mit ein, zwei Happen Klee vom Straßenrand zu verkürzen. „Mit der flachen Hand am Hals wegdrücken!“, ermahnt Tanja Simone dann. Der Esel hört direkt, Simone lächelt. „Sancho war am Anfang ein Problem-Esel“, erklärt Tanja. „Er lebte sehr isoliert mit einer Ziege.“ Als Sancho zu ihr auf den Hof kam, war er anderen Eseln gegenüber ängstlich, Menschen biss und trat er. „Ich habe ihm gesagt, dass das mit uns so nicht geht - dann hat er auf einmal den Schalter umgelegt.“
Der Weg führt die Gruppe zu einer schattigen Waldhütte, an der es eine Quelle für die Tiere und Holzbänke für die Menschen gibt. Wo vorher Geplaudere, Geschlendere und Geschnaube zu vernehmen war, kehrt nun Ruhe ein. Die Reisegruppe bindet Sancho, Jakob und Emil an und packt ihre mitgebrachten Stärkungen aus.

„Wie friedlich drei Esel sich dahin parken und sagen ‚Wir machen jetzt mal Päuschen, keiner neidet dem anderen den Platz‘“, stellt Tanja fest und mustert die Tiere. Im nächsten Moment schnappt einer der Esel nach einem auf dem Boden liegenden Rucksack und wirbelt ihn durch die Luft – der Inhalt scheint interessant zu sein, aber er bekommt ihn nicht geöffnet. Als er aufgibt, fällt auf: Ein Apfel im Rucksack lockte ihn an.
Tanjas Ziel: Gemeinsam mit den Tieren in Rente gehen
Nachdem der Rucksack gerettet und die Pause beendet ist, macht sich die Gruppe auf den Heimweg. Schon von Weitem tönt ihnen ein langgezogenes „I-Aah“ entgegen. Auch trabende Hufe sind zu hören – dann biegt einer der daheimgebliebenen Esel um die Hausecke und begrüßt die Rückkehrerinnen und Rückkehrer. Tanja führt Ausreißer und Gruppe unbeeindruckt zurück zum Stall.
Letztere versammelt sich um einen Tisch im Hof, während Tanja die Esel zur Weide zurückführt. Die vier trotten zu den anderen und reiben zur Begrüßung ihre Köpfe und Nasen aneinander. Tanja schaut ihnen hinterher: „Ich möchte diesen Tieren auch treu bleiben, wenn wir nicht mehr berufstätig miteinander sind, sodass wir zusammen in Rente gehen.“