Schicksalsschlag
Totgeburt – wie eine Frau aus Wangen den Schicksalsschlag verkraftete
Wangen / Lesedauer: 10 min

Dass Susann Kofler-Hane ein totes Kind zur Welt brachte, liegt nun schon 28 Jahre zurück, auch wenn es ihr nicht so vorkommt. „Ich kann mich an jedes Detail erinnern, als wäre es erst gestern gewesen.“
Wie die junge Hebamme weinend aus dem Kreißsaal lief. Wie die Schwestern ihr zunächst ein warmes Handtuch auf die Brust legten und dann den im Mutterleib verstorbenen Jungen.

„Sein Körper war ganz kalt“, sagt Kofler-Hane, die das Kind aber sofort in ihr Herz schloss. Es hielt, spürte und berührte. Die Haut abtastete und seinen Duft aufnahm.
Und auf diese Weise auch über den Tod hinaus eine lebenslange Bindung knüpfte. „Nach vier Stunden musste ich den Jungen abgeben.“ Niedergeschlagen und voller Trauer, aber auch dankbar für die kurze gemeinsame Zeit.
Die Zahl der Totgeburten steigt
Ein totes Kind zu gebären, gehört wohl zu jenen Schicksalen, die für die meisten Menschen außerhalb der Vorstellungskraft liegen, die sich emotional kaum erfassen lassen. 420 Totgeburten gab es in Deutschland im vergangenen Jahr.
Die Zahl mag überschaubar sein, sie steigt aber seit 2011 an, was sich womöglich schon durch leichte Korrekturen verhindern ließe. Betroffenen bliebe damit eine traumatische Erfahrung erspart.
Für Susann Kofler-Hane sollte es damals das erste Kind sein, im Sommer hatte sie geheiratet und schon im Herbst lag der Geburtstermin. Entsprechend groß war bei dem Paar die Vorfreude auf die gemeinsame Zukunft und auf den Nachwuchs.
Auch wenn die werdende Mutter während der Schwangerschaft nie ein gutes Gefühl hatte. „Da stimmt was nicht. Das Kind ist so ruhig“, sagte sie wiederholt zu ihrem Frauenarzt, der sie aber jedes Mal beruhigte. „Es ist alles in Ordnung. Das Kind schläft nur.“
Die düstere Vorahnung bewahrheitet sich
So schritt die Schwangerschaft voran, ihre Zweifel aber blieben. Eines Abends drückte sie wie gewohnt auf ihren Bauch – doch diesmal nahm sie gar keine Bewegung wahr. „Da hatte ich eine düstere Vorahnung.“ Die sich wenig später bewahrheiten sollte, als der Arzt vergeblich nach den Herztönen suchte und ihr mitteilen musste: „Ihr Kind ist tot.“
„Danach bin ich heim gelaufen, absolut zerstört“, erzählt Kofler-Hane. Sofort benachrichtigte sie ihren Mann, der kein Wort herausbrachte und wie in Trance von der Arbeit nach Hause fuhr. „Es war entsetzlich.“
Auch sie selbst wusste nicht wohin mit ihren Gefühlen, legte eine CD der Kelly Family ein und hörte das Lied „An Angel“, wieder und immer wieder, in voller und dröhnender Lautstärke. „Dann bin ich zu meinen Eltern. Die sind aus allen Wolken gefallen.“
Später in der Wangener Klinik konnten die Ärzte den Tod nur bestätigen und Vorbereitungen für die Geburt treffen. Kofler-Hane war damals in der 36. Schwangerschaftswoche. „Hätte man das Kind rechtzeitig rausgeholt, wäre es lebensfähig gewesen.“ So aber musste der Junge sterben, woran genau wissen die Eltern nicht.
Das ist nicht ungewöhnlich, bei etwa der Hälfte der Totgeburten bleibt die Todesursache im Dunkeln, viele Eltern verzichten auch auf eine Obduktion an dem kleinen Körper. Als Fehlgeburt gilt der Verlust bei einem Gewicht des Ungeborenen von bis zu 500 Gramm, liegt es darüber, zählt es als Totgeburt. Für die es verschiedene Ursachen geben kann.
Die Ursachen für Totgeburten sind vielfältig
Darunter chromosomale, wie beim Downsyndrom, Infektionen oder Störungen der Plazenta, die im Mutterleib das Kind versorgt, das in diesen Fällen aber nicht mehr wächst und irgendwann stirbt. „Es kann auch vorkommen, dass sich die Plazenta zu früh löst“, sagt Professor Frank Reister , Leiter der Geburtshilfe am Uniklinikum Ulm, „eine der häufigsten Ursachen für Totgeburten.“
Das gilt auch für den sogenannte Schwangerschaftszucker, wie der Fachmann erklärt. „Die Plazenta sorgt dafür, dass der Blutzuckerspiegel steigt, weil das Kind den Zucker braucht“, sagt Reister. „Manchmal kann die Mutter diesen Anstieg mit ihrem Insulin nicht mehr auffangen.“ Häufig betrifft das die Frauen, die ein erhöhtes Risiko für einen Typ-2-Diabetes haben.
Was oftmals mit Übergewicht und Bewegungsmangel der Mutter einhergeht, mit einer für die Gesundheit belastenden Lebensweise. „Das sind Zivilisationskrankheiten, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten deutlich zugenommen haben.“ Und die in Form von Schwangerschaftszucker die Risiken für Mutter und Kind erhöhen. „Ein Teil der Totgeburten ist sicher darauf zurückzuführen.“
Ein höheres Alter der Mutter erhöht ebenfalls das Risiko für eine Totgeburt. „Eine der Ursachen dafür: Im Alter nehmen die Menschen an Gewicht zu. Damit steigt aber auch das Risiko für Schwangerschaftszucker.“ In den Statistiken bildet sich dieser Zusammenhang klar ab, betont der Mediziner.
Auch eine Coronainfektion birgt ein Risiko
Leider kann auch eine Coronainfektion zu einem Versterben des Kindes im Mutterleib führen, sagt Reister. „Das ist ein eindeutiges Ergebnis des Cronos-Registers – unserer deutschen Erhebung zu Schwangerschaft und Coronainfektionen.
Ungefähr in den ersten zwei bis vier Wochen nach der Infektion durch Corona ist das Risiko für Schwangere, dass es zu einer Totgeburt kommt, um ein Mehrfaches höher, als wenn man die Covid-Erkrankung nicht gehabt hätte. Danach sinkt das Risiko wieder auf das Ausgangsniveau.“
Keine Gefahren treten in dieser Hinsicht dagegen durch Corona-Impfungen auf. „Große Studien zeigen klar, dass, hier kein Zusammenhang besteht – auch nicht im ersten Drittel der Schwangerschaft, also bei frühen Fehlgeburten.“
Tausende Frauen, so Reister, die in dieser Frühphase geimpft wurden, ließen entsprechende Tendenz überhaupt nicht erkennen. „Im Gegenteil, eine Impfung verringert eindeutig das Risiko, schwer zu erkranken – und schützt damit die Schwangerschaft.“
Es folgt die Trauer – und der Umgang damit
Eine Pandemie war noch sehr weit weg, als Susann Kofler-Hane ihr Kind verlor. Für sie gab es damals nur ein Thema: ihre Trauer – und der Umgang damit. Das begann schon mit der Beerdigung, die derselbe Pfarrer hielt, der sie nur sechs Wochen zuvor getraut hatte. Einem befreundeten Hobbyfotografen trug sie auf: „Du musst die Beisetzung fotografieren!“
Als der erschrocken antwortete: „Nein, das kann ich nicht!“, ließ sie nicht locker. „Du musst aber – sonst mache ich es selbst.“ Also fotografierte der Freund; Schmerz, Leid und Schwarz. „Das war Gold wert. Denn die Fotos sind so wichtig, damit ich mich erinnern kann.“
Allein Bilder reichten ihr damals aber nicht, drei, vier Monate lief sie von zu Hause zum Friedhof, kilometerlang, jeden Tag, zu Fuß. „Da habe ich mindestens ein Paar Schuhe verschließen.“ In Bewegung und an der Luft konnte sie jedoch körperlich regenerieren und die Gedanken reinigen. Bis sie das Grab erreichte und die Gefühle über sie hereinbrachen, die Tränen über ihre Wangen flossen, Tag für Tag, wieder und immer wieder. „Ich wusste, ich muss durch dieses tiefe Tal, sonst funktioniert es nicht, sonst krepiere ich.“
Dann kam Weihnachten. Am 7. Oktober war ihr Sohn tot zur Welt gekommen, Heiligabend saß sie mit ihrem Mann in der Kirche. Und die Gemeinde sang „Stille Nacht“. „Ich habe nur noch Rotz und Wasser geheult. Die Leute haben mich schon angeschaut, aber das war mir egal.“ Denn sie wusste: „Ich muss diese Wunde immer wieder aufreißen, damit sie von innen heilen kann.“
Bücher lesen und Gleichgesinnte treffen
In dieser Zeit hat die gelernte Arzthelferin viele Bücher zum Thema Trauern gelesen und auf einem Seminar auch Gleichgesinnte getroffen. „In einer Gruppe muss man sich nicht verstellen, jeder hat das gleiche Leid erlebt. Alle haben ein Kind verloren. Das war sehr hilfreich.“ Im Kontakt mit anderen Eltern hat sie aber auch erfahren, dass jeder Mensch unterschiedlich trauert, Frauen anders als Männer.
Dass der Kummer die Seele auch blockieren kann, dass Partnerschaften und Ehen den Schmerz nicht aushalten. „Entweder geht man gestärkt aus einer solchen Situation hervor oder zerbricht daran“, sagt Kofler-Hane. „Mein Mann und ich haben uns für Ersteres entschieden.“
Arzt fordert Enttabuisierung von Tod und Trauer
Das tat auch Jan Salzmann, dessen Frau vor vielen Jahren Drillinge verlor. Seither engagiert sich der Arzt aus Aachen in der bundesweiten „Initiative Regenbogen – Glücklose Schwangerschaften“.
Und wirbt für mehr Offenheit. „Sterben und Trauer sind schon immer ein Tabuthema gewesen. Steht der Tod am Anfang des Lebens, gilt das umso mehr.“ Für die Betroffenen wiegen Distanz und Schweigen von Bekannten, Kollegen und auch Freunden jedoch schwer. „Weil der Verlust ohnehin mit Gefühlen des Versagens und der Schuld einhergehen kann.“
Inzwischen hat immerhin ein Umdenken eingesetzt, durch die Beisetzung der Totgeborenen, durch die Pflege von Trauerritualen, durch wissenschaftliche Erkenntnisse und eine offensive Öffentlichkeitsarbeit. „Für eine Enttabuisierung müssen wir aber noch sehr viel mehr tun“, sagt Salzmann.
Den Betroffenen die Bewältigung der eigenen Not erleichtern
Ein aufgeschlossener und verständnisvoller Umgang mit dem Thema würde auch den Betroffenen die Bewältigung der eigenen Not erleichtern, wie Professor Frank Reister bestätigt. „Wichtig ist, dass die Frauen den Kontakt zu ihrem toten Kind aufnehmen. Dass sie das Geschehen nicht verdrängen und als Teil der eigenen Geschichte wahrnehmen.“
„Wir haben in Deutschland eine gute Vorsorge“, sagt Reister. „Seit zehn Jahren wird auf Schwangerschaftszucker jedoch mit einem Test gescannt, der dafür eigentlich nicht geeignet ist.“ Der sogenannte 50-Gramm-Suchtest verpasst demnach bis zu einem Drittel aller Frauen, die eine Schwangerschaftsdiabetes haben oder noch kriegen.
„Das ist eine eindeutige Schwäche“, kritisiert der Mediziner. Ein anderer, der 75-Gramm-Test, gilt dagegen als aufwendiger, wirksamer und besser geeignet. Die Mehrkosten wären laut Reister gut angelegt: „Der Test könnte dazu beitragen, die Zahl der Totgeburten zu senken.“
Bereit, erneut schwanger zu werden
Susann Kofler-Hane wollte allen Risiken zum Trotz ihren Kinderwunsch nicht aufgeben. „Das war meine beste Therapie – ich wollte unbedingt wieder schwanger werden.“ Und das wurde sie. Verbunden mit der Sorge, erneut in die Dunkelheit zu stürzen. „Die Schwangerschaft war eine Katastrophe, furchtbar, belastet von tausendprozentiger Angst – 40 Wochen lang.“
In dieser Zeit wurde sie manchmal von Panik gepackt, ist plötzlich mit dem Fahrrad von der Arbeit zum Frauenarzt gerast, um die Herztöne kontrollieren zu lassen. „Der hat dann gesagt: ,Du, dein Kind lebt’ – und ich bin zurück zum Schaffen. Mein Chef war sehr verständnisvoll.“ Das kleine Herz schlug kräftig weiter, doch als Wehen und Geburt einsetzten, hat sie nur noch gezittert, gebibbert und gehofft. Als das Kind schließlich entbunden war, lautete ihre erste Frage: „Lebt es?“ Und die zweite: „Mädchen oder Junge?“
Die Kerze brennt immer am 7. Oktober
Drei Mädchen sollte das Ehepaar schließlich bekommen, und mit jeder Schwangerschaft kehrte die Angst zurück. Die Töchter kamen aber alle gesund zur Welt, sie sind inzwischen 20, 25 und 27 Jahre alt. Auf dem Nachttisch der glücklichen Mutter steht auch ein Foto ihres Sohnes, im Wohnzimmer erinnern ein weißes Kreuz und eine Geburtstafel an ihn. Und eine Kerze, die sie immer am 7. Oktober für den Jungen anzündet. „Wenn mich heute jemand fragt, ob ich Kinder habe, sage ich: ,Ja, drei Mädle und einen Bub. Der ist aber gestorben.“ Sein Name war Simon.