Bücherschrank
Lesung wird zu temperamentvollem Vortrag
Leutkirch / Lesedauer: 4 min

Schwäbische.de
Vermutlich haben nicht alle, die eine Hölderlin-Ausgabe im Bücherschrank haben, das ganze Werk gelesen. Zuviel hohes Pathos, weihevoll, absolut humorfrei. Vor allem zu späteren Zeiten verrätselt, kaum auflösbar. Dennoch: Hölderlin ist ein ganz Großer, leider auch vereinnahmt von den Nazis, später von der Linken. Der Autor und profunde Hölderlin-Kenner Karl-Heinz Ott hat anlässlich der baden-württembergischen Literaturtage in der Dreifaltigkeitskirche den berühmten Tübinger lebendig werden lassen.
Und wie – was als Lesung angekündigt ist, wird zum temperamentvollen Vortrag, frei gehalten, eineinhalb Stunden lang. Nur einmal liest Ott vier Seiten aus seinem unbedingt empfehlenswerten Buch „Hölderlins Geister“. Anschließend wieder: packende Fakten, eine Tour durch deutsche Philosophie- und Literaturgeschichte, viele berühmte Namen. Keine Sekunde langweilig.
Buch akribisch erarbeitet
VHS-Leiter Karl-Anton Maucher begrüßt in der mit 70 Plätzen ausverkauften evangelischen Dreifaltigkeitskirche. Alle Gäste tragen auch während der spannenden Autorenbegegnung Mundschutz. Imre Törok, der in Leutkirch lebende Schriftsteller und langjährige Vorsitzender des Verbands deutscher Schriftsteller, ist selbst Hölderlin-Experte. Wer in Tübingen studiert und im Examen Friedrich Hölderlin zum Thema gemacht hat, ist tief in die Welt des Großdichters eingetaucht, von den Anfängen bis zu den 36 langen Jahren als „Wahnsinniger“ im Turm. Törok stellt den Autor Karl-Heinz Ott vor, dessen Buch akribisch erarbeitet sei, mit viel Humor und Seitenhieben nach links und rechts. „Macht Spaß“. Obwohl er selbst Hölderlin gut kenne, habe er doch Neues entdeckt, und Zusammenhänge.
Ott spannt einen weiten Bogen, von Hölderins dichterischen Anfängen in der „Wohngemeinschaft“ mit Hegel und Schelling bis zur Aneignung, zum Missbrauch durch die Nazis und später, in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, durch die marxistische Linke. Im 19. Jahrhundert sei Hölderlin nicht ganz unbekannt gewesen, habe aber kaum eine Rolle gespielt. „Der `Hyperion` wurde nur 350mal gedruckt“. Zu Hölderlins Zeiten sei die deutsche Sprache noch im Werden, noch ungeschliffen. Hölderlin habe sich an der griechischen Dichtung orientiert, ausgehend von einem imaginären Ideal. „Wenn jemand wie Pindar schreibt, mit gräzisierendem Pathos, nie die leichteren Formen bedient, ist es für die Leser nicht ganz einfach. Das liest man nicht zum Einschlafen“.
Wunsch der Mutter abgelehnt
Um den „gemeinsamen Geist“ geht es Hölderlin, zusammengehalten von einer „neuen Mythologie der Vernunft“. Durch Dichtung neue Bilder schaffen, mit der sich alle identifizieren können. Aufs Christentum bezieht sich Hölderlin ausdrücklich nicht, auch, weil er den Wunsch der Mutter ablehnt, pietistischer Pfarrer zu werden. „Wir brauchen die neue, schöne Welt hier, nicht erst im Jenseits“.
Dass die Nazis Hölderlins „neues Germanien“ aufgreifen, ihn zum „Dichterheiland“ machen, überrascht im Nachhinein kaum. Zumal Hölderlin, so man die Verse aus dem Zusammenhang reißt, Botschaften für jede Lebenslage hat. „Wo die Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, etwa. Hunderttausende Soldaten führen ihren Hölderlin im Tornister mit, „nur Hölderlin hat deutsche Tiefe“. Wiederentdeckt worden ist Hölderlin 1909 durch Norbert von Hellingrath, der faschistischen Ideologie unverdächtig, so Ott. Hellingrath ist 1916 bei Verdun gefallen. Die neue Hölderlin-Begeisterung erfasst den Kreis um Stefan George. Höchst angetan ist auch Martin Heidegger – ein Nazi seit der „Machtergreifung“, der Hölderlin bräunlich interpretiert.
Politisch vereinnahmt
Die Abrechnung mit der Nazi-Rezeption kommt in den 60er-, 70er-Jahren. Hölderlin wird nochmals politisch vereinnahmt. Er habe seine jakobinischen Ideale der französischen Revolution nie aufgegeben, so der Schriftsteller und Dramatiker Peter Weiss. Sozusagen ein Widerstandskämpfer, der auch nicht wahnsinnig gewesen sei, sich aus Angst vor politischer Verfolgung in den Turm begeben habe. Eine Behauptung, die auch die Anti-Psychiatrie-Bewegung befeuert. Der Verlag „Roter Stern“ bringt eine neue Hölderlin-Gesamtausgabe heraus, es tobt der Kampf mit den Nutzern der bisherigen Stuttgarter Ausgabe. „Darin wird Hölderlin eingesargt.“ Diese Auseinandersetzung wirke bis heute nach, so Karl-Heinz Ott.
Und heute, im Hölderlin-Jahr, vor 250 Jahren ist er geboren? „Was soll man von Hölderlin lesen, womit beginnen?“ fragt Stefan Böbel, Leiter der Leutkircher Stadtbibliothek. Ott antwortet ausführlich. Die Reclam-Ausgabe sei immer gut, die frühen Gedichte seien nicht meisterlich, „Hyperion“ natürlich. Die späten Werke nicht auflösbar, unverständlich, Bilder an Bilder. Aber: „Hauptsache anfangen. Sich der Sprache überlassen, auch wenn man nicht alles versteht. Sich in eine Stimmung versetzen, wie in der Musik“.