Auch unter Taliban-Herrschaft kommt Hilfe aus Leutkirch nach Afghanistan
Leutkirch / Lesedauer: 7 min

19 Monate ist es inzwischen her, dass die Taliban in Afghanistan wieder die Macht übernommen haben. Armut und Frauenrechte sind die Schlagwörter, wenn über das geschundene Land berichtet wird.
Lamm–Wirt Aziz Rahimi war Anfang des Jahres nach längerer Pause zusammen mit seiner Frau Roza wieder vor Ort, besuchte unter anderem das Waisenhaus, das der Leutkircher Verein „Hilfe für Herat“ unterstützt. Was er dort erlebt hat und warum Hilfe unabhängig von den Machthabern weiter dringend nötig ist.

„Das schönste sind die frohen und erleichterten Gesichter der Kinder und auch der Heimleitung, wenn wir mit den Säcken voller Lebensmittel vorfahren“, so Rahimi. 250 Waisen leben in dem Heim in Herat, das der Leutkircher Verein seit einigen Jahren unterstützt. Das Heim erhalte keinerlei staatliche Unterstützung und sei auf private Spenden angewiesen.
90 Prozent unterhalb der Armutsgrenze
„Doch inzwischen leben 90 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Eigentlich sind die Menschen in Afghanistan sehr hilfsbereit, aber sie kämpfen seit Jahren selbst ums nackte Überleben.
Sie haben alle Ersparnisse aufgebraucht und leben von der Hand in den Mund. Wir haben sogar von Menschen gehört, die aus lauter Verzweiflung ihre Organe oder gar ihre Kinder verkaufen“, erklärt Rahimi.

Dank der jährlichen Benefizveranstaltung im Lamm und vieler Spenden über das Jahr hinweg, hatte der Verein demnach 10.000 Euro zur Verfügung, die er auf eine afghanische Bank transferieren und Dank Rahimis Familie vor Ort von dort in kleinen Margen abheben konnte, heißt es in einer Pressemitteilung des Vereins, dessen Vorsitzender Rahimi ist.
Davon kauften sie unter anderem fünf Tonnen Reis, über tausend Liter Öl, 500 Kilogramm Mehl und über eine Tonne Kichererbsen sowie rote Bohnen und 300 Kilogramm Gas zum Kochen.
Hilfe im letzten Moment
Hilfe im letzten Moment sei das gewesen, die Kinder hätten bereits seit zwei Monaten Hunger gelitten. Bereits bei der letzten Lebensmittellieferung vor rund einem halben Jahr sei es kurz vor knapp gewesen.
Für das Lernen in der integrierten Schule, die auch externe Kinder besuchen, kauften die Rahimis von dem Spendengeld demnach außerdem noch Schulmaterial: Über 3.500 Schulhefte, 2.500 Bleistifte und rund 1.000 Radiergummis wie Anspitzer. In der Schule werden noch weitere 400 externe Kinder unterrichtet — auch Mädchen und auch über die 6. Klasse hinaus, so Rahimi.
140 Mädchen im Waisenhaus
Mit Blick auf die Situation der Mädchen — die im Waisenhaus mit 140 gegenüber den 110 Jungs die Mehrheit bilden — erklärt er, dass diese entsprechend der Vorgaben der Taliban getrennt von den Jungs und ausschließlich von Frauen unterrichtet werden und separat untergebracht sind.
So wolle man Ärger vermeiden. Grundsätzlich sei es so aber möglich, die Mädchen auch in den höheren Klassen weiterhin zu unterrichten, sagt Rahimi.

Generell habe er vor Ort die Situation der Frauen anders wahrgenommen, als das in Deutschland berichtet werde. In Herat, seine frühere Heimat und die zweitgrößte Stadt in Afghanistan, würden Frauen nach wie vor ohne männliche Begleitung auf die Straße und zum Einkaufen gehen.
Auch Frauen bei der Arbeit habe er beobachten können. Und in seiner Verwandtschaft würden viele Frauen weiterhin studieren, erklärt Rahimi, der inzwischen seit über 35 Jahren in Leutkirch lebt.
Erlebt andere Wirklichkeit
An den dortigen Universitäten und Hochschulen seien die weiblichen Gelehrten in der Mehrheit, weswegen dort ein nach Geschlechtern getrennter Unterricht weiter möglich sei. In anderen Städten sei das laut Berichten allerdings nicht der Fall, weswegen der Unterricht dort verboten sei, so Rahimi. „Rozas Schwester und ihre Freundin studieren weiterhin, wobei zurzeit bis März noch Schul– und Semesterferien sind“, heißt es dazu im aktuellen Reisebericht auf der Vereinshomepage.
„Wir erlebten vor Ort eine andere Wirklichkeit als in den westlichen Medien berichtet wird. Ich hoffe für die Menschen hier und vor allem die Mädchen und Frauen, dass es so bleibt“, schreibt Rahimi hier.
Was UN und NGOs berichten
Von der UN und NGOs wird die Lage der Frauen sehr kritisch gesehen. Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, die auch nach der Machtübernahme der Taliban durchgehen in Afghanistan aktiv war und ist, weißt in einem aktuellen Bericht auf die zunehmenden Einschränkungen von Frauen hin: Im Dezember 2022 gab die afghanische Regierung demnach ihren Beschluss bekannt, Frauen von der Tätigkeit in Nichtregierungsorganisationen und von der Hochschulbildung auszuschließen.
Diese Verbote werden den Zugang von Frauen zu medizinischer Versorgung wahrscheinlich noch verschlechtern, so die Befürchtung. Schon jetzt sei es in manchen Projekten der Organisation schwierig, die benötigten Stellen zu besetzen, wie etwa die der Gynäkologen und Gynäkologinnen.

„Wo soll die nächste Generation Ärztinnen, Hebammen und Krankenpflegerinnen herkommen, wenn Frauen nicht studieren dürfen? Unsere Teams in den Geburtshilfeprojekten in Afghanistan haben im vergangenen Jahr bei mehr als 42.000 Entbindungen geholfen.
Bei mehr als 8.000 von ihnen traten unmittelbare Komplikationen auf. Das Verbot für Frauen, zu lernen und zu arbeiten, gefährdet das Leben der Mütter und das ihrer Kinder“, so Filipe Ribeiro, Landeskoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan.
Afghanistan bleibt Thema
Bei seinen Gästen sei die schwierige Lage in Afghanistan durchaus nach wie vor ein Thema, erzählt Rahimi. Viele Leute hätten es im Vorfeld auch mitbekommen, dass er zusammen mit seiner Frau über den Iran in das Land reisen möchte.
Trotz der Warnungen, mit deutschem Pass derzeit besser nicht in den Iran zu reisen. Es habe aber alles wie geplant geklappt, berichtet er. An der iranisch–afghanischen Grenze hätten sich die Grenzer sogar darüber gefreut, dass jemand mit deutschem Pass vor ihnen stand.
Die 120 Kilometer von der Grenzen bis nach Herat wären dann auch kein Problem gewesen. Aufstände gegen die aktuellen Machthaber gebe es in dem Land derzeit nicht, sagt Rahimi.
Die Lage sei relativ ruhig. Im Gegensatz zu früheren Jahren sei es friedlich auf den Straßen und die Menschen müssten keine Entführungen oder Überfälle fürchten. Die sonst alltägliche Korruption sei nahezu verschwunden.
Einfluss von China und Rußland
Was Rahimi bereits vor rund einem Jahr berichtete, und was nach wie vor zu beobachten sei, ist der große Einfluss von Staaten wie Saudi–Arabien, Russland, China oder Iran in dem geschundenen Land.
Durch die westlichen Sanktionen würde Afghanistan zwangsläufig in deren Arme getrieben. Schließlich müssten die Taliban schauen, wie sie trotz der Sanktionen an Geld kommen, um den Staatsapparat zu finanzieren. Dazu werden etwa Pinienkerne nach China verkauft oder Steinkohle nach Pakistan. Außerdem höre man immer wieder, dass es Deals mit China in Bezug auf Bergbauprodukte gebe, sagt Rahimi.
Geld in das Land zu transferieren sei sehr schwierig. Auch sie mussten bei den Spendengeldern aus Leutkirch erst aufwändig nachweisen, wer sie sind und wofür das Geld ist, damit es per Bank nach Afghanistan transferiert werden konnte, erzählt der Lamm–Wirt. Er hoffe, dass es der Bevölkerung unabhängig von den Machthabern bald besser geht: „Es wäre bitter nötig.“