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Sexuelle Vielfalt und Kindeswohl

Baden-Württemberg / Lesedauer: 8 min

Baden-Württembergs Kultusminister Andreas Stoch verteidigt seinen Bildungsplan – Er sieht Verleumder am Werk
Veröffentlicht:31.03.2015, 18:40

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Nein, der Kultusminister will nicht wissen, was in diesen Briefen steht. Andreas Stoch macht einen fast angewiderten Eindruck, als er den Papierstoß mit dreißig, vierzig Zuschriften von Lesern der „ Schwäbischen Zeitung “ von sich wegschiebt. „Ich bekomme seit über einem Jahr unsägliche Dinge von den Menschen, die diese Thesen des Herrn Stängle vertreten“ sagt er, „Unsägliches.“

Und er gebe deshalb auf diese Meinungen nichts mehr. Der SPD-Politiker ist verschnupft – sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne. Am Samstag hatten wieder einmal die Gegner des baden-württembergischen Bildungsplans in Stuttgart demonstriert. Dieser Protest sowie ein flankierender Kommentar in der „Schwäbischen Zeitung“ („Die Gegner liegen richtig“) haben Andreas Stoch auf die sprichwörtliche Palme gebracht. Drei Tage später, beim Gespräch in seinem Ministerium, ist er immer noch dort oben. Er ist „ziemlich erschüttert“, „relativ entsetzt“, kurz: schwer verärgert.

Die da draußen demonstriert haben, das sind für ihn „die Stängles“ – aus ganz Deutschland „hergekarrt“. Gabriel Stängle, ein Realschullehrer aus dem Schwarzwald, hatte im vergangenen Jahr die Petition gegen den baden-württembergischen Bildungsplan gestartet, und 190000 Menschen haben unterschrieben. Die Befürchtungen: Der Teil des Bildungsplans, in dem es um die Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt geht, gefährde die Kinder durch Frühsexualisierung, stelle das klassische Familienmodell in Frage, bevorzuge einseitig Menschen mit nicht heterosexueller Orientierung, beschneide die Erziehungsrechte der Eltern, habe eine sexuelle Umerziehung zum Ziel.

„Der neue Puff für alle“

Anlass für diese Sorgen waren nicht zuletzt Beiträge in großen deutschen Zeitungen wie „Frankfurter Allgemeine“ und „Süddeutsche Zeitung“. Im Zentrum der Kritik stand und steht vor allem das Praxisbuch „Sexualpädagogik der Vielfalt“ der Kasseler Professorin Elisabeth Tuider und vier weiterer Autoren. Es gilt als Standardwerk. Die Fachleute empfehlen darin unter anderem, Kindern mit spätestens zwölf Jahren beizubringen, wo der „Penis sonst noch stecken“ könnte. Siebtklässler dürfen dann in der Klassse über ihr „erstes Mal“ berichten. Also „das erste Mal Analverkehr“, „das erste Mal ein Kondom überziehen“, „das erste Mal ein Tampon einführen“. In einer anderen Unterrichtseinheit namens „der neue Puff für alle“ dürfen die Kinder ein Bordell so modernisieren, dass es „verschiedenen Lebensweisen und sexuellen Praktiken“ genügt. Es gibt noch weit irritierendere Details. Jedenfalls: Eine klassische Familie mit Mutter, Vater, Kindern taucht in dem Buch nicht auf. Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb, dahinter stecke Methode. Die Autoren des Praxisbuchs seien Vertreter der „dekonstruvistischen Pädagogik sowie der (neo-)emanzipatorischen Sexualpädagogik“. Zu deren Zielen zähle ausdrücklich „die Vervielfältigung von Sexualitäten, Identitäten, Körpern“. Auch solle „bewusst Verwirrung und Veruneindeutung angestrebt werden“.

Was Kritikern in diesem Zusammenhang ebenfalls sauer aufstößt: Elisabeth Tuider und der renommierte Sexualforscher Uwe Sielert – er ist Tuiders Doktorvater und Geschäftsführer der Gesellschaft für Sexualpädagogik – berufen sich auf den 2008 verstorbenen Sexforscher Helmut Kentler. Der aber habe sich „als Wissenschaftler und ganz besonders als Pädagoge selbst diskreditiert“ („Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“), weil er Anfang der 1970er-Jahre verwahrloste Jungen bei sich und bei vorbestraften Pädophilen einquartieren ließ. Kümmern gegen Sex, das sei der Deal gewesen. Die Zeitung zitiert einen Staatsanwalt, der sich seit zehn Jahren mit sexuellem Kindesmissbrauch befasst, mit der Aussage, in dem Praxisbuch fänden sich ganz klar Anweisungen, die Pädophilen als Ermunterung zum Missbrauch von Kindern dienen könnten. Und die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Christina Hennen ist im selben Beitrag der Meinung, hier komme unter dem Vorzeichen von „Gender“ zurück, was schon in der Kinderladenbewegung und in der Reformpädagogik als übergriffig erkannt wurde.

Andreas Stoch kennt den Wirbel um dieses Buch. Er weiß, dass immer, wenn darüber berichtet wird, der baden-württembergische Bildungsplan genannt wird. Und das bringt ihn besonders in Rage. Zu behaupten, dass der Inhalt dieses Buches sich mit den Zielen der Landesregierung decke, sei „schlicht absurd“. Es gehe ausschließlich darum, dass Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung nicht diskriminiert würden, nicht um unterschiedliche Sexualpraktiken. Es bestehe kein Anlass zu glauben, „dass wir dieses Buch brauchen“. Ein Bildungsplan enthalte „abstrakte Sätze, in denen Bildungsinhalte definiert werden“. Die Umsetzung liege in der pädagogischen Kompetenz der Lehrer. „Und deswegen kann ich jetzt hier auch keine Erklärung abgeben, dass kein Lehrer in Baden-Württemberg Teile eines Buches – da werden auch immer nur Sequenzen herausgenommen – verwenden wird.“

Im Vorwurf einer nicht kind- und altersgerechten Frühsexualisierung erkennt er unbewiesene Konstrukte, „aus meiner Sicht Verleumdungen“. Und: Wenn die „Stängles und Co. dieser Welt von Umerziehung reden, dann gehen sie davon aus, dass Menschen sich ihre sexuelle Orientierung heraussuchen können“. Aber nach allem, „was ernstzunehmende Wissenschaftler bekunden, ist die sexuelle Identität Teil der Persönlichkeit des Menschen. Die sucht er sich nicht aus, die ist angelegt.“ Man solle ihm doch bitte die Stellen „an unserem Bildungsplan entlang sagen, wo es nicht mehr kindgerecht oder altersgerecht ist“.

Ein vielleicht fehlerhaftes Papier

Der Minister räumt ein, dass in einem internen Papier vom November 2013 „aus Sicht mancher zu häufig der Begriff sexuelle Vielfalt, ich glaube 25 Mal, stand“. Dieses Papier sei „vielleicht fehlerhaft gewesen, weil es den falschen Eindruck entstehen ließ“. Er habe dann aber mit der Vorstellung der Leitperspektiven „aus meiner Sicht alles dafür getan“, klarzumachen, was gemeint sei. Nebenbei: An über 100 Erprobungsschulen arbeiteten Pädagogen mit der Entwurfsfassung des Bildungsplans. Es habe bisher „keine einzige Rückfrage, keine einzige Beanstandung“ gegeben zum Thema „Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“.

In einem Punkt ist Stoch stur: Er hat das, was er „Verleumdungen“ nennt, nicht in die Welt gesetzt, also muss er es auch nicht aus der Welt schaffen. Wieder gerät er in Rage: „Sie müssen Dinge aus der Welt schaffen, die sie überhaupt nicht in irgendeiner Weise ins Gespräch gebracht haben. Wissen Sie, wie absurd das eigentlich ist?“ Der Jurist blitzt durch, wenn er von einer Umkehr der Beweislast spricht. Und weil es die nicht geben darf, geht es ihn auch nichts an, wenn der Arbeitskreis Lesbenpolitik der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württembergs den Kollegen an den Schulen eine Handreichung geschickt hat, wie man „lesbische und schwule Lebensweisen“ thematisieren könnte. Darin dürfen die Schüler Fragen wie diese beantworten: „Ist es möglich, dass deine Heterosexualität nur eine Phase ist und dass du diese Phase überwinden wirst?“ Oder: „Laut Statistik kommen Geschlechtskrankheiten bei Lesben am wenigsten vor. Ist es daher für Frauen wirklich sinnvoll, eine heterosexuelle Lebensweise und so das Risiko von Geschlechtskrankheiten und Schwangerschaft einzugehen?“ Der Minister sagt dazu: „Diese Schrift kenne ich nicht, und ich kann auch nicht die Verantwortung dafür übernehmen, was Verbände tun.“ Er könne das durchaus falsch finden, müsse sich aber nicht für etwas rechtfertigen, das eben nicht auf ihn zurückgehe.

Die Frage, wieviel „Gender-Mainstreaming“ (siehe nebenstehender Kasten) in den neuen Bildungsplan fließe, beantwortet Andreas Stoch so: „Die Angst, die in diesem Zusammenhang besteht, heißt ja, dass im Sinne eines Dekonstruktivismus bestehende Wertestrukturen zerstört werden sollen, um quasi eine neue Wertestruktur zu schaffen.“ Er halte von dieser Theorie nichts. Und der Bildungsplan sei „kein Instrument, um diese Art von Theorie umzusetzen“.

„Ein Geschäftsmodell“

Ist der Streit um den Bildungsplan – er soll im Herbst verabschiedet werden – also alles in allem ein großes Missverständnis, ein Sturm im Wasserglas? Andreas Stoch sieht es anders. Das Thema werde befeuert von Leuten, „die es politisch für ihre Zwecke ausschlachten wollen“. Er nennt die AfD, namentlich Beatrix von Storch, er nennt „Teile der CDU“, namentlich Hedwig von Beverfoerde, Gründerin der „Initiative Familienschutz“. Die hätten daraus „fast schon ein Geschäftsmodell gemacht“. In gewisser Weise fühlt sich Andreas Stoch „von den Stängles dieser Welt“ verfolgt.

Gabriel Stängle, 42-jähriger Realschullehrer aus Nagold, hatte im November 2013 die Petition zum Bildungsplan auf den Weg gebracht. 192000 Menschen unterschrieben, Landesregierung und Petitionsausschuss des Landtags wiesen die Petition zurück. Im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“ bekräftigte Stängle seine Kritik an den Plänen. „Das Konzept der Akzeptanz sexueller Vielfalt ist ein zentraler Bestandteil der Sexualpädagogik der Vielfalt und wurde von deren Vertretern entwickelt“, sagt er. Akzeptanz sexueller Vielfalt könne nicht von den Methoden der Sexualpädagogik der Vielfalt getrennt werden. Jeweils würden die LSBTTIQ-Gruppen (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, transsexuell, intersexuell, queer) mit Ihren Forderungen, die sie unter dem Slogan der Antidiskriminierung führen, eine zentrale Rolle spielen.

Stängle betont, es sei für ihn eine Selbstverständlichkeit, dass Menschen mit nicht heterosexueller Orientierung nicht diskriminiert werden dürften. Darum gehe es im Aktionsplan aber längst nicht mehr, sondern „um die Privilegierung einer Interessensgruppe“.

In den Erprobungsfassungen fänden sich so gut wie keine Hinweise, wie die Leitperspektive Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt unterrichtet werden solle. Das stehe jetzt umso deutlicher – und für ihn abschreckend – in den Entwürfen des „Aktionsplans für Akzeptanz & gleiche Rechte Baden-Württemberg“. (sz)