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Streitbarer Ukraine-Botschafter Melnyk: „Viele emotionale Aussagen bedauere ich im Nachhinein“

Berlin / Lesedauer: 7 min

Andrij Melnyk eckt mit seinen Aussagen oft an – Der ukrainische Botschafter rechtfertigt sein Vorgehen und räumt Fehler ein
Veröffentlicht:05.07.2022, 17:11

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Gerüchte machen die Runde, dass Andrij Melnyk bald nicht mehr Botschafter der Ukraine in Deutschland sein könnte. Mehrere Medien berichten, dass der 46-Jährige spätestens im Herbst nach Kiew zurückgehen werde, um dort im Außenministerium zu arbeiten. Auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“ äußerte sich Melnyk, der seit Januar 2015 Kiews Botschafter in Berlin ist, dazu nicht - dafür jedoch zu anderen Themen.

Im Interview sprach Melnyk, der am 20. September beim Bodensee Business Forum (BBF) der „ Schwäbischen Zeitung “ zu Gast sein wird, über seine Rolle, die Kritik an seinen Äußerungen – und er erneuerte einige Forderungen.

Herr Melnyk, in regelmäßigen Abständen ecken Sie in der deutschen Öffentlichkeit mit Forderungen und Positionen an, die mit Diplomatie wenig zu tun haben, die eher an einen radikalen Politiker erinnern. Warum tun Sie das?

Ich bin parteilos, bin kein Politiker gewesen und habe auch nicht vor in die Politik zu wechseln. Aber mein Beruf hier in Deutschland als Diplomat wird politisch. Nolens volens. Auch wenn ich das nicht möchte. Aus einem einfachen Grund: Weil dieser Krieg für uns alle ein Riesenschock ist. Es ist meine Aufgabe, dass man hier in Deutschland versteht, was der blutigste Krieg auf unserem Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg bedeutet.

Können Sie denn die Kritik verstehen, dass es nicht besonders klug ist, den deutschen Bundeskanzler als beleidigte Leberwurst zu bezeichnen?

Das kann ich gut nachvollziehen. Wir sind alle Menschen und man macht Fehler. Man versucht auch, diese Fehler zu korrigieren und aus ihnen zu lernen. Viele emotionale Aussagen bedauere ich im Nachhinein.

Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger hat die deutsche Politik mit Blick auf die Geschichte verteidigt und darauf hingewiesen, dass es für die Bundesrepublik schwer sei, auch in eine militärische Führungsrolle zu schlüpfen. Können Sie das nachvollziehen?

Vor dem jetzt größten Krieg seit 1945 in Europa wäre das vielleicht verständlich gewesen. Es gab ja in der Gesellschaft und Politik einen großen Konsens, dass man sich wegen der NS-Geschichte anders verhalten sollte. Jetzt aber haben wir es mit einem zynischen Angriffskrieg zu tun. Jahrelang musste ich bei Diskussionen über den Donbas-Krieg Vorwürfe widerlegen, es seien immer beide Seiten verantwortlich.

Der Begriff Separatisten war von Anfang an falsch, denn Moskau hatte immer das Sagen. Jetzt ist alles klipp und klar, wer der Aggressor und wer das Opfer ist. Gerade wegen der leidvollen deutschen Geschichte, gerade wegen der Shoah, wegen der Naziverbrechen auch in der Ukraine, kann sich Deutschland nicht erlauben, eine zurückhaltende Position einzunehmen. Es ist auch eine moralische Pflicht, der Ukraine unter die Arme zu greifen.

Jetzt wird doch geliefert: militärisch, finanziell und auch solidarisch/moralisch.

Das stimmt: Stichwort Zeitenwende. Die Haltung ändert sich allmählich. Endlich! Der Prozess ist im Gange. Auch wenn wir es uns wünschten, dass es viel schneller ginge, vor allem mit schweren Waffen, weil die Lage an der Front so dramatisch ist. Ich kann verstehen, dass keiner in Deutschland in diesen Krieg hereingezogen werden will. Aber eines muss doch klar sein. Putin hat diesen Krieg begonnen, nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen uns alle, gegen die freie Welt, gegen die liberale Demokratie. Deshalb wäre es falsch, sich herauszuhalten. Es gibt viele Menschen, sie haben Angst vor Eskalation.

Wer sind denn die, die sich in Ihren Augen versuchen, herauszuhalten?

In der SPD-Fraktion gibt es wohl viele, denen die Neubewertung schwerfällt, um dementsprechend zu handeln, obwohl die Parteispitze mit Lars Klingbeil da sehr klare neue Akzente setzt. Aber das gilt ehrlich gesagt für alle Parteien, bis auf die ganz links und ganz rechts, die beiden sind unbelehrbar. Die haben bis heute dieses aggressive Russland verharmlost und Putin hofiert.

Es gab jetzt mehrere Gipfeltreffen. Der Westen hat sich klar positioniert. Bekommen Sie jetzt die Waffen, die Sie seit Langem fordern?

Wir begrüßen viele Zusagen, aber leider wird es immer noch zu wenig geliefert. Das sehen wir auch hier in Deutschland seit der Zeitenwenden-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz am 28. Februar. Es gibt bis heute immer wieder Schwankungen und auch Zweifel, ob der jetzt eingeschlagene Weg richtig ist. Das weiß ich aus vielen Gesprächen. Es gibt einen historischen Beschluss des Bundestages vom 28. April, aber bei der Umsetzung gibt es weiterhin große Schwierigkeiten. Wir hoffen, dass man in Berlin endgültig begreift, dass es keine Alternative gibt. Es ist im ureigenen deutschen Interesse, uns zu helfen, mit allem schweren Kriegsgerät, was man uns zur Verfügung stellen kann – sowohl aus der Bundeswehr, als auch der Rüstungsindustrie.

Konkret: Funktionieren die sogenannten Ringtausche?

Den Begriff kannte ich gar nicht. Aber die Idee ist ja, wir bekommen von unseren Verbündeten schwere Waffen, die wir bedienen und schnell einsetzen können. Und die Bundesrepublik liefert dann neue Waffen an diese Länder, um deren Lücken zu stopfen. Die Idee ist gut, aber die Umsetzung funktioniert nicht. Siehe Slowenien, da ging es um alte sowjetische Kampfpanzer T-72. Das wurde gar nicht realisiert, obwohl es angekündigt wurde, nur alte Schützenpanzer BMP-1. Der Gedanke per se ist nicht schlecht, aber mit vielen Staaten hat es nicht geklappt. Wir verstehen auch nicht, warum darf man sowjetische Panzer liefern, aber keine ausgemusterten westlicher Bauart wie Leopard-1-Panzer oder Leopard-2-Panzer? Diese Logik können wir nicht nachvollziehen. Das ist ein künstliches Konstrukt im Kopf von manchen Politikern.

Wie bewerten Sie den Kriegsverlauf?

Wir hatten sehr wenige einsatzfähige Waffen. Wir mussten uns am Anfang der russischen Aggression beinahe mit bloßen Händen verteidigen, wir hatten nur altes Gerät. Es gab kleinere Lieferungen aus dem Westen, die eher symbolischen Charakter hatten. Die aktuelle Lage: Russland bleibt militärisch überlegen. Da besteht kein Zweifel. Nicht nur was die Technik, auch was die Soldatenanzahl betrifft. Aber die Russen kommen allmählich auch an ihre Grenzen. Die Sanktionen werden ihre Wirkung erst mittelfristig entfalten. Jetzt kommt es darauf an, dass man sieht, dass das übermächtige Russland – das größte Land der Welt – nicht im Stande ist, seit über 130 Tagen Krieg seine Mindestziele zu erreichen.

Das Hauptziel war ja, die gesamte Ukraine zu erobern, in Kiew eine Marionettenregierung zu installieren. Diese Ziele hat Putin verfehlt. Ich bin aber überzeugt, dass er an ihnen festhält. Aber auch die Hälfte der Ukraine zu besetzen, hat er nicht geschafft. Seit zwei Monaten hat er alles, was er zusammenziehen konnte, in der Region Luhansk konzentriert. Er hat keine Nachschubprobleme und trotzdem rückt er nur langsam vor, dazu noch mit enormen Verlusten.

Putins Botschaft lautet: „Ich tue, was ich will und wenn es Jahre dauert.“ Das stimmt leider, denn er kann diesen Krieg mit Exporten von Öl und Gas sehr lange finanzieren. Er hat über 90 Milliarden Euro seit dem 24. Februar verdient! Dieser Geldstrom muss trockengelegt werden.

Was bedeutet das für Deutschland? Es gibt einen zweiten offenen Brief von Prominenten, dass jetzt Waffenstillstandsverhandlungen gestartet werden müssten.

Die militärischen Erfolge, die Putin trotz allem hat, kann man nicht schönreden. Aber der Westen darf nicht verzweifeln, wir brauchen eine langfristig konzertierte Hilfe unserer Verbündeten, vor allem in Deutschland. Ein fauler Kompromiss wird Putin gar nicht stoppen, sondern eher ermutigen, seine Aggression fortzusetzen. Solche Briefe wie jetzt in der „Zeit“ spielen Russland in die Hände. Diese Briefe sind von Menschen verfasst, die sich angeblich auskennen. Dabei waren von den Briefunterzeichnern nur wenige in der Ukraine.

Das ist das Problem, denn sie haben sehr wohl Einfluss auf die deutsche Politik und Gesellschaft. Das ist das Hin und Her seit der Zeitenwende. Den Menschen muss mehr erklärt werden. Die Preissteigerungen verbinden die meisten mit dem Ukraine-Krieg. Das ist ebenso inkorrekt wie der Begriff. Es ist kein Ukraine-Krieg. Es ist ein Krieg Russlands gegen die Ukraine. Bei den Briefen gibt es so einen Unterton, irgendwie sei die Ukraine am Angriff selber schuld, die sollten das mal schnell regeln, sich ergeben, dann hätte man wieder seine Ruhe in Deutschland. Aber dieser Ansatz ist falsch und brandgefährlich.