StartseitePolitikDie Sehnsucht der Jesidinnen nach Sicherheit

Lebensweg

Die Sehnsucht der Jesidinnen nach Sicherheit

Ravensburg / Lesedauer: 3 min

Bildung stärkt das Selbstbewusstsein jesidischer Frauen und hilft ihnen bei der Überwindung patriarchalischer Strukturen
Veröffentlicht:02.12.2019, 19:01

Von:
Artikel teilen:

So unterschiedlich der Lebensweg von Mariam Hassan Kheder und Dilwin Kassem Ibrahim in den vergangenen Jahren gewesen sein mag: Die Sehnsucht nach einem sicheren Ort für ihre Kinder, ihre Familienangehörigen und sich selbst verbindet die jesidischen Frauen in den Flüchtlingscamps der Provinz Dohuk. „Die Frauen brauchen Schutzräume und Sicherheit“, sagt Düzen Tekkal, Gründerin und Vorsitzende von Hawar.help.

Der Verein unterstützt vor allem jesidische Frauen im Camp Qadiya, seine Projekte sind aber auch für christliche und muslimische Frauen offen. „Die Verständigung zwischen den Religionen und Ethnien ist mir ganz wichtig“, sagt Tekkal, die als Jesidin in Deutschland geboren wurde.

Ihre jesidisch-kurdischen Eltern waren vor mehr als 40 Jahren aus der Türkei nach Deutschland geflohen. Deshalb kennt die 41-Jährige beide Welten: die traditionellen Vorstellungen, von denen die jesidische Gemeinschaft geprägt ist, und die Lebensentwürfe, von denen die junge jesidische Generation träumt.

Näh-, Alphabetisierungs- und Sprachkurse – mit diesen Angeboten hat Hawar.help gute Erfahrungen gemacht. „Die Frauen wollen nicht zu Hause in ihren Zelten oder Containern sitzen“, sagt Düzen Tekkal, die vor fünf Jahren als Journalistin den Nordirak besucht hat, das unermessliche Leid der Jesiden nach den Angriffen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ gesehen hat und über diese Erfahrung zur Aktivistin wurde.

„Die Frauen brauchen eine Beschäftigung und Perspektiven in ihrem Leben.“ Und sie hat damit Erfolg: Jesidinnen ohne jede Schulbildung, die mit einem Alphabetisierungskurs angefangen hätten, lernen im Camp Qadiya inzwischen Englisch.

Düzen Tekkal geht es allerdings um mehr. Sie will, dass die jesidischen Frauen sich selbst mehr zutrauen, Selbstbewusstsein aufbauen und es ihnen so gelingt, die traditionellen patriarchalischen Strukturen zu überwinden. Das funktioniere am besten: übers Geld. „Wenn Frauen ein Gehalt beziehen und so zum Familienunterhalt beitragen, zählt dies letztlich mehr als das, was der Onkel und die Tanten sagen“, sagt die Vereinsvorsitzende. Dass es aber gerade im Orient nicht einfach ist, die Emanzipation von Frauen voranzubringen, hat sie selbst erlebt.

„Es hat einige Zeit gedauert, bis es uns gelungen ist, uns Respekt zu verschaffen. Aber es ist uns geglückt, und das macht mich als Frau, die selbst dieser Minderheit angehört, unheimlich stolz“, sagt sie. „Unsere Arbeit wird inzwischen ernst genommen – und das hat uns auch zum Vorbild der Frauen gemacht, denen wir zu einer gewissen Selbstständigkeit verhelfen wollen.“

Der Satz, dass Bildung das A und O im Leben ist, ist inzwischen auch in den Camps im Nordirak immer häufiger zu hören. Das Leben der Jesiden, die bislang als Gemeinschaft sehr zurückgezogen in ihrer eigenen Welt lebten, wird sich dadurch weiter verändern. Dies ist sowohl den Betroffenen als auch den Hilfsorganisationen klar. Denn so beengt der Alltag in den Flüchtlingscamps auch sein mag, die Kinder können dort zur Schule gehen – Mädchen ebenso wie Jungen.

Junge Frauen wie Mariam Hassan Kheder und Dilwin Kassem Ibrahim, denen der Schulbesuch versagt blieb, profitieren davon bislang allerdings nur als Mütter. Für sie müssen andere Möglichkeiten geschaffen werden, damit sie irgendwann auf eigenen Beinen stehen können. Ein Schritt in diese Richtung ist der Bau einer Bäckerei, der im Camp Sheikhan mit Spendengeldern finanziert werden soll.

Aber auch Begegnungsstätten, an denen sie sich austauschen und über ihre Sorgen und Nöte sprechen können, helfen den Frauen, ihre düstere Vergangenheit und die bedrückende Gegenwart zu ertragen. Im Camp Mam Rashan soll deshalb ein kleiner Garten entstehen.

„Gerade für die vielen traumatisierten Frauen ist es unendlich wichtig, dass sie mittels Arbeit und Beschäftigung lernen, sich wieder etwas zuzutrauen“, sagt Düzen Tekkal. „Es geht hier schließlich nicht nur um den Aufbau von Orten und Infrastruktur. Es geht um den Aufbau von Menschen.“