Politik
Migrationsforscher kritisieren EU–Abkommen mit Tunesien
Berlin / Lesedauer: 5 min

Claudia Kling
Die Europäische Union und ihre Mitgliedsländer haben schon einiges versucht, um die irreguläre Migration nach Europa in den Griff zu bekommen. Mit Tunesien hat EU–Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nun eine Vereinbarung getroffen: Brüssel gibt Geld, damit Tunis mehr Migranten von der Weiterreise Richtung Europa abhält. Das sind die wichtigsten Fragen und Antworten zu dem geplanten Migrationsabkommen.
Was haben die EU und Tunesien vereinbart?
Ein „gutes Paket“, wie es von der Leyen laut Agenturberichten formulierte. Tunesien soll künftig 105 Millionen Euro bekommen, um den Grenzschutz zu verstärken und besser gegen Schleuser vorzugehen. 150 Millionen Euro sind als Zuschüsse für den Staatshaushalt vorgesehen. Außerdem kann Tunesien auf weitere 900 Millionen Euro hoffen, die als langfristige Unterstützung in Form von Darlehen das Land wirtschaftlich und finanziell stabilisieren sollen. In einem Fünf–Punkte–Plan, den von der Leyen ausgearbeitet hat, soll es aber nicht nur um Migration gehen, sondern auch um eine bessere Zusammenarbeit in Bereichen wie der Erneuerbaren Energie und bei Wirtschaftskooperationen.
Warum setzt Brüssel jetzt auf Tunis, um die Migration besser zu steuern?
Die Zahl der Migranten, die von Tunesien aus in See stachen, hat deutlich zugenommen. Laut Mediendienst Integration kamen die meiste Menschen, die 2023 Italien erreichten, aus dem kleinsten nordafrikanischen Land. Von 75.000 Migranten, die in diesem Jahr bei ihrer Ankunft in Italien registriert wurden, waren 44.000 in Tunesien gestartet. Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) starben auf dieser Route zwischen Januar und Ende Mai etwa 1064 Menschen. Im gesamten Jahr 2022 wurden laut UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, in Italien 84.035 Asylanträge gestellt. Das zeigt: Die Zahl der Flüchtlinge und Migranten ist noch einmal steil nach oben gegangen. Deshalb drängte auch die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni auf ein entsprechendes Abkommen mit Tunesien.
Was ist die Ursache dafür, dass mehr Migranten Tunesien in Richtung Europa verlassen?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer davon ist die schlechte wirtschaftliche Lage des Landes, auch infolge der Corona–Pandemie. Sie hat zur Folge, dass gerade Migranten aus Ländern wie der Elfenbeinküste oder Guinea in Tunesien ihre Jobs verloren haben. Ein anderer ist die „Welle der Gewalt“, wie es der Migrationsforscher Gerald Knaus formuliert, die sich seit Februar — angefacht auch vom tunesischen Präsidenten Kais Saied — gezielt gegen die Migranten richtet. „Dieser kalkulierte Hass hat dazu geführt, dass selbst die Menschen aus Subsahara–Afrika, die eigentlich in Tunesien bleiben wollten, sich in die Boote übers Mittelmeer gesetzt haben“, sagt Knaus. Am Montag berichteten Agenturen, dass IOM–Helfer 191 Menschen aus der Wüste an der tunesisch–libyschen Grenze gerettet haben. Sie sollen dort von tunesischen Sicherheitskräften ohne Wasser und Nahrung ausgesetzt worden sein. Aber auch viele Tunesier verlassen ihr Heimatland — im Jahr 2022 haben weltweit laut UNHCR knapp 22.000 einen Asylantrag gestellt.
Was ist von dem Migrationsabkommen zu erwarten?
Die Erwartungen sind recht unterschiedlich. Italien und andere EU–Länder wollen die irreguläre Migration reduzieren. Dass dieser Plan aufgeht, sehen Migrationsexperten allerdings mit Skepsis. Es sei zwar ein „gewisser Effekt“ zu erwarten, sagt Jochen Oltmer, Professor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück. „Allerdings bleiben andere Wege, etwa über das östliche Mittelmeer oder Südosteuropa, weiterhin bedeutsam.“ Klar sei auch: „Blockiert ein Transitland den Weg nach Europa, kommt es meist rasch zur Verlagerung von Migrationsrouten“, so Oltmer. Auch der Migrationsforscher Knaus zweifelt an der Wirkung der Vereinbarung. Er sei immer skeptisch, „wenn man solche Abkommen aufs Geld reduziert“, sagte er. „Das wird nicht funktionieren.“ Sein Vorschlag lautet: „Man müsste auf der einen Seite erreichen, dass Tunesien seine Bürger schnell aus Europa zurücknimmt, die ausreisepflichtig sind. Auf der anderen Seite müsste die EU Möglichkeiten schaffen für Kontingente.“ Dann könnten Tunesier legal nach Europa kommen und arbeiten. Im Hinblick darauf bleibe das Abkommen aber „sehr vage“.
Was ist mit den Menschenrechten? Werden die gewahrt?
Auch daran gibt es Zweifel. „Die entscheidende Frage ist, was in der Absichtserklärung steht. Geht es auch um die Menschenrechte derjenigen, die gestoppt werden sollen?“, fragt Knaus. Oder sei das eigentliche Ziel der EU, mit Gewalt Menschen irgendwie davon abzuhalten, nach Europa zu kommen. Der Migrationsforscher verweist in diesem Zusammenhang auf das tunesische Nachbarland Libyen. Die EU–Politik habe dort seit 2017 zu „enormen Menschenrechtsverletzungen und großem Leid“ geführt, da die EU darauf gesetzt habe, „dass die libysche Küstenwache Menschen zurückbringt“. Die EU habe aber keine Verantwortung dafür übernommen, „was danach mit ihnen passiert“, kritisiert Knaus. Dass bei dem Abkommen die Wahrung von Menschenrechten und eine rechtsstaatliche Prüfung von Asylgesuchen im Vordergrund steht, erwartet auch Jochen Oltmer nicht. Der tunesischen Regierung gehe es um eine Verbesserung seiner schwierigen wirtschaftlichen Lage und nicht in erster Linie um den Schutz von Menschen, die nach Europa wollten.
Wie reagiert die deutsche Politik auf das Abkommen?
Unterschiedlich. Das Abkommen, das die EU verhandelt hat und weiter verhandelt, habe die volle Unterstützung der Mitgliedstaaten und damit auch der Bundesregierung, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann am Montag in Berlin. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes räumte allerdings ein, die „aktuellen Berichte über die Lage von Flüchtlingen in Tunesien und über den Umgang mit ihnen“ seien besorgniserregend. Von den Grünen kam deutliche Kritik an dem Abkommen: „Diese Vereinbarung und der Zeitpunkt senden ein falsches Signal auch an andere autoritäre Machthaber in der Nachbarschaft Europas“, kritisierte Tobias Bacherle. Saieds autoritärer Staatsumbau in Tunesien und das Einschränken ziviler Räume dürften von der Europäischen Union nicht ignoriert oder gar unterstützt werden.