Patriotismus
Der Stolz der Deutschen und das Problem mit dem Patriotismus
Politik / Lesedauer: 9 min

Michael Wollny
Die Rede von Bundespräsident Frank-Walter-Steinmeier zum 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung , war bewegend und wirkt auf wunderbare Weise nach. Ein Essay.
+++ Die Rede des Bundespräsidenten zum 8. Mai 1945 im Wortlaut +++
Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass einstige Feinde zu Freunden wurden und sich die Bundesrepublik Deutschland ab 1949 in der Mitte Europas zu einer Wohlstandsdemokratie entwickeln durfte. Doch nichts davon ist auf ewig gesichert. Das mahnt auch Steinmeier an, weshalb der 8. Mai 1945 eben nicht "das Ende der Befreiung" markiert. "Freiheit und Demokratie sind vielmehr sein bleibender Auftrag, unser Auftrag!"
Die deutsche Ambivalenz - Glück und Unglück
Steinmeiers Worte zum "Tag der Befreiung" hatten auch selbst etwas Befreiendes für den Umgang mit der deutschen Ambivalenz, die einerseits großes Glück bedeutet, weil man als Deutscher in Frieden, Freiheit und eine gefestigte Demokratie hineingeboren wird.
Andererseits aber ist da die historische Verantwortung, die sich aus der Erinnerung an das schrecklichste Verbrechen der Menschheitsgeschichte ergibt und die von den strammen Nationalisten und völkisch Verirrten im Milieu von AfD und Pegida als "Schuldkult" verspottet wird. Es ist eine unheilvolle und unselige Forderung nach einem Ende der bundesdeutschen Erinnerungskultur, die man als lästige Altlast empfindet.
Bundespräsident Frank-Walter-SteinmeierNicht das Erinnern ist eine Last – das Nichterinnern wird zur Last
Doch "nicht das Erinnern ist eine Last – das Nichterinnern wird zur Last. Nicht das Bekenntnis zur Verantwortung ist eine Schande – das Leugnen ist eine Schande!"
Tatsächlich sind diese Worte des Bundespräsidenten zum 8. Mai 1945 keine Mahnung, die man erst einmal gedanklich verdauen müsste. Man sollte sie fühlen. Als selbstverständliche Verpflichtung gegenüber den Abermillionen Opfern deutscher Barbarei im Zeichen des Hakenkreuzes.
Irritationen um eine deutsche Identität
Parallel zur Entwicklung eines politischen Bewusstseins als Teenager, bildete sich bei mir ein deutsches Verantwortungsbewusstsein heraus, das ich mit so etwas wie einer nationalen Identität gleichsetzte. Das musste zwangsläufig zu Irritationen führen.
So war ich im Bewusstsein der deutschen Verantwortung für die unvorstellbaren Grausamkeiten des Dritten Reiches lange Zeit auch ein Suchender, ein Zweifelnder, ein Beschämter und sich selbst Verurteilender, auch wenn mir das nie so vorgelebt worden war. Meine frühpolitische Prägung ging auf ein Elternhaus zurück, in dem ein aufgeklärter sozialdemokratischer Geist herrschte, Brandt und Schmidt waren allgegenwärtig.
Ein Elternhaus, in dem meine Mutter Anfang der Achtzigerjahre meinen neuen Mitschüler aus der Dorfgrundschule ganz normal zum Essen nach Hause einlud, gerade weil es damals eher normal zu sein schien, über diesen "Kümmeltürken" und "seine Kanacken-Familie" zu lästern. Ich lernte früh, wie bösartig Rassismus ist. Vor allem aber lernte ich früh, dass Rassismus bösartig ist.
Rassismus-Aufklärung mit aufgebackenen Semmeln
Den Unterschied zwischen schwarzer und weißer Hautfarbe erklärte mir mein Vater mit aufgebackenen Semmeln beim Frühstück: "Stell dir einfach vor, der liebe Gott hat uns alle aus einem Teig gebacken und einige Semmeln waren eben etwas länger im Ofen - das macht sie aber keineswegs schlecht. Sie sind immer noch aus demselben Teig wie die anderen, sind genauso lecker und der liebe Gott mag sie alle gleich gern."
Das war natürlich eine recht naive Parabel und mag aus heutiger Sicht auch politisch nicht ganz korrekt gewesen sein, aber für einen Sechsjährigen ergab das durchaus Sinn. Der Holocaust, die deutsche Verantwortung und meine Suche nach einer nationalen Identität waren da noch weit weg, was sich zehn Jahre später änderte.
Mit dem politischen Punkrock der Neunzigerjahre und dem subkulturellen Milieu selbstverwalteter Jugendzentren wie der Wangener "Tonne" oder dem Kißlegger "Spatz" verfestigte sich die Gewissheit, dass Nazis nie und nirgendwo unwidersprochen ihre menschenverachtende Ideologie propagieren dürfen.
"Nie wieder!" ist keine inhaltsleere Floskel
"Nie wieder!", damals wie heute keine inhaltsleere Floskel, sondern ein Bekenntnis, ein Versprechen an die Opfer der Vergangenheit. Eine immanente Verantwortung. Ein nationales Gewissen - und somit Teil einer nationalen Identität.
Nie wieder darf sich wiederholen, was nie hätte geschehen dürfen. Wehret den Anfängen – jetzt, 75 Jahre nach Kriegsende. Schon wieder.
Bundespräsident Frank-Walter-SteinmeierDamals wurden wir befreit. Heute müssen wir uns selbst befreien!
"Damals wurden wir befreit. Heute müssen wir uns selbst befreien!", forderte nun Steinmeier in seiner Rede und meinte die Selbstbefreiung "von der Versuchung eines neuen Nationalismus. Von der Faszination des Autoritären. Von Misstrauen, Abschottung und Feindseligkeit zwischen den Nationen."
Historische Verantwortung als Leitbild
Hass, Hetze, Rassismus und eine erschreckende Demokratieverachtung greifen von rechts aus wieder um sich. Es sind "die alten bösen Geister in neuem Gewand".
Steinmeiers Appell an die Gesellschaft, diesen Spaltkräften nicht unwidersprochen Raum zu bieten, ist für mich vor Jahrzehnten schon zum Leitbild geworden. Auch heute als Journalist der "Schwäbischen Zeitung", der sich weiterhin nicht rechtfertigen wird, wenn er als "Haltungsjournalist" beschimpft wird.
Doch diese Assoziation des Deutschseins mit rechter Ideologie führte in jungen Jahren bei mir zu einer Anomalie in der Indentitätsgenese, die so wohl nur in deutschen Biografien zu finden sein dürfte.
Eine Identität der Ablehnung
Denn was macht es mit einem jungen Menschen, einem Teenager in der intensivsten Phase der Persönlichkeitsentwicklung, wenn er stolz darauf ist, gegen das zu sein, was er ist? Welches Nationalbewusstsein soll sich herausbilden, wenn das Gewissen rät, all das abzulehnen, was den Verdacht von "typisch Deutsch" in sich trägt. Wie soll man in Patriotismus etwas Gutes erkennen, wenn man ihn nur als kleinen Bruder des Nationalismus wahrnimmt? Fragen, die ich mir in jungen Jahren nie selbstkritisch stellte. Meine Identität als Deutscher bestand darin, mir kein Bewusstsein für eine deutsche Identität zu erlauben. Auf das Land der Täter wollte ich nicht stolz sein.
"Es gibt 1.000 gute Gründe, auf dieses Land stolz zu sein, warum fällt uns jetzt auf einmal kein einziger mehr ein?", sang Campino von den "Toten Hosen" auf meinem Walkman. Und ich nickte nicht nur zum Takt.
Das war der Bruch in meinem Leben, in meiner Identität. Erst einige Jahre an Lebenserfahrung später, fand ich für mich endlich einen Weg, um diese Identitätsfrage zu klären. Ich hatte festgestellt, dass sich dieses Land seiner Verantwortung durchaus zu stellen vermag und entsprechend danach zu handeln gelernt hat - nach innen wie nach außen. Auch wenn es in beide Richtungen gerade in jüngster Zeit noch echte Gestaltungsspielräume gibt.
Bundespräsident Frank-Walter-SteinmeierMan kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.
Doch es war diese bemerkenswerte Rede des Bundespräsidenten zum 8. Mai 1945, in der ich meinen persönlichen Weg zu einer deutschen Identität nachgezeichnet sah. In der Steinmeier von Brüchen sprach, die ich noch immer spüre.
Steinmeiers Worte schlagen eine Brücke
Steinmeier schüttete diese Verwerfungen nicht einfach mit Worten zu. Vielmehr bauen seine Worte dem Gewissen eine Brücke, mit der sich nun Vergangenheit und Gegenwart zu einer untrennbaren Logik verbinden:
"Die deutsche Geschichte ist eine gebrochene Geschichte – mit der Verantwortung für millionenfachen Mord und millionenfaches Leid. Das bricht uns das Herz bis heute. Deshalb: Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben."
Aber – und das ist der entscheidende Punkt - man kann dieses Deutschland lieben. Ohne nationalistisches Geplärre und völkisches Geschwurbel. Ganz ohne die Rhetorik der Neuen Rechten. Dafür mit einem leidenschaftlichen Bekenntnis für die freiheitlich-demokratische Grundordnung, für ein weltoffenes, menschliches und solidarisches Deutschland innerhalb eines geeinten Europas. Auch daran erinnert der 8. Mai, der sich in seiner historischen wie moralischen Bedeutung somit noch viel mehr als der 3. Oktober als Nationalfeiertag empfiehlt.
Bundespräsident Frank-Walter-SteinmeierEs gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft.
"Es gibt kein Ende des Erinnerns", meint Steinmeier. "Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft."
Diese Erinnerung an ein beispielloses deutsches Verbrechen und unsere persönliche Verantwortung, nicht etwa für die Taten Anderer in der Vergangenheit, sondern für unser eigenes Handeln in der Gegenwart, das sich von den Taten der Vergangenheit ableitet. Das ist moralische Verantwortung. Es ist die Prämisse für eine deutsche Identität.
Eine versöhnliche Form von Patriotismus
Diese Verantwortung anzunehmen, darin läge "ein aufgeklärter, demokratischer Patriotismus", erklärt Steinmeier und kommt auf den Punkt: "Es gibt keinen deutschen Patriotismus ohne Brüche. Ohne den Blick auf Licht und Schatten, ohne Freude und Trauer, ohne Dankbarkeit und Scham."
Das klingt nach einem versöhnlichen, vernünftigen und somit akzeptablen deutschen Patriotismus, nach dem ich mich persönlich zwar nie gesehnt habe, aber durchaus nach der Orientierung, die er bietet. Gerade weil er zu Haltung und Handeln verpflichtet. Wer damit nicht klarkommt und stattdessen für sein nationalistisches Eigenwohl einen Schlussstrich unter die deutsche Erinnerungskultur fordert und von "Schuldkult" spricht, hat eine Identität, die sich durch Geschichts- und Verantwortungslosigkeit selbst entwertet.
Wer sich der deutschen Verantwortung auf diese Weise entziehen will, "verdrängt nicht nur die Katastrophe von Krieg und NS-Diktatur", betont Steinmeier, der "verleugnet sogar den Wesenskern unserer Demokratie".
Unsere Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit
Somit ergibt sich aus unserer Erinnerung an die Vergangenheit auch unsere Verantwortung für Gegenwart und Zukunft. Denn die deutsche Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist vielmehr ein schützenswertes Geschenk, auf dessen Unversehrtheit nachfolgende Generationen einen Anspruch haben, den sie auch regelmäßig lautstark formulieren sollten.
Am 8. Mai 1945 wurde Deutschland befreit. 75 Jahre später muss es sich nun also selbst befreien, von aufkeimendem Nationalismus, Rassismus und Menschenhass. Dabei sollte es sich auch endlich ohne notorische Arroganz als friedensfördernde Bindekraft eines vereinten Europas begreifen, in dem humanistische Werte und eine gemeinsame Erinnerung an die leidvolle Überwindung des Gegensätzlichen die wahre Gemeinschaftswährung sind. Das wäre fürwahr ein Grund, um stolz zu sein.