Sozialkreditsystem
Wie in China: Ein Fünftel der Deutschen wünscht sich Überraschung
Berlin / Lesedauer: 4 min

Schwäbische.de
Gerd Gigerenzer ist beunruhigt, beunruhigt von einer Zahl. 20 Prozent. Das ist der Anteil der Deutschen, die die Einführung eines Sozialkreditsystems wie in China befürworten. „Das ist überraschend“, sagt der Psychologe und Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz der Universität Potsdam. Denn ein solches System würde totale Kontrolle des Staates über alle Lebensbereiche bedeuten.
Doch der Reihe nach. Was sind Sozialkreditsysteme eigentlich? Die Idee dahinter ist einfach: Für regierungskonformes, erwünschtes Verhalten gibt es Punkte. Bei vermeintlich schlechtem Verhalten werden diese wieder abgezogen. Erste Pläne dafür machte die Regierung in Peking 2014 öffentlich.
Punktabzug fürs Übertreten der roten Ampel
Es gibt Versuche in zahlreichen Städten. In der Jiangsu Provinz beispielsweise starteten alle Bürgerinnen und Bürger mit einem Punktestand von 1000. Hilft man dort einer älteren Dame über die Straße, gibt das 10 Punkte. Fährt man über eine rote Ampel, werden 50 Punkte abgezogen. Gerüchte in Sozialen Medien zu verbreiten schlägt mit 100 Minuspunkten zu Buche – zehn falsche Likes, und schon ist man im Minusbereich.
Das kann massive Konsequenzen haben. Denn sinkt der Punktestand zu sehr, kommt der Name auf eine „Schwarze Liste“. Mehr als acht Millionen Schuldnern wurde bis Ende September 2017 die Nutzung von Flugzeugen untersagt. Bürger mit einem schlechten Score haben außerdem Probleme bei der Wohnungssuche oder im Job. „Lose credit somewhere, face restrictions everywhere“ (Verliere irgendwo Kredit, spüre überall Konsequenzen).
Die Regierung in Peking hat George Orwells Buch „1984“, das einen Überwachungsstaat beschreibt, wohl gründlich gelesen. Denn auch in der Liebe wird es schwierig: Auf Chinas größter Partnervermittlungswebseite Baihe kann man seinen Punktestand angeben. Tut man das nicht, macht man sich verdächtig.
Auch Einkäufe werden überwacht
Über 400 Indikatoren ziehen die Behörden heran, um die Bürger zu vermessen. Nicht nur Alter, Schuldenstand oder Wohnort, sondern auch Onlinekäufe oder der Gang über die Ampel werden streng überwacht. „Alle Daten werden in Echtzeit gesammelt und von einem Algorithmus bewertet“, erläuterte Kolja Quakernack auf einer Podiumsdiskussion auf der rC3-Konferenz des Chaos Computer Clubs. Der Sinologe hat sich intensiv mit dem System beschäftigt. „Was damit bezweckt werden soll, ist die Umerziehung des Volkes zu gutem Verhalten“, sagt Quakernack.
Und das wünschen sich zwanzig Prozent der Deutschen? „Wir haben das Wort China bei der Fragestellung bewusst nicht verwendet, weil es da Vorurteile gibt in Deutschland“, erläutert Gigerenzer die Fragestellung im Risikoreport der Ergo-Versicherung, die im September veröffentlicht wird. Gefragt wurde, ob neben Unternehmen auch der Staat ein Sozialkreditsystem einführen sollte, das neben Schulden oder Strafregister auch Daten zu sozialem oder politischem Verhalten berücksichtigt.
Eine Formulierung, bei der gerade in Deutschland die Alarmglocken schrillen müssten. „Man muss sich nicht vor Augen halten, wie nützlich ein solches System für die Stasi gewesen wäre“, sagt Gigerenzer. Und die Zahlen steigen an: Vor fünf Jahren ermittelten er und sein Team in einer ähnlichen Untersuchung noch eine Zustimmungsrate von zehn Prozent.
Hohe Zustimmung bei Beamten
Unerwartet war für den Forscher die hohe Zustimmungsrate bei Beamten. Ganze 37 Prozent dieser Berufsgruppe wünschen sich ein Sozialkreditsystem. „Man könnte vermuten, dass sie eher das Gefühl haben, belohnt und nicht bestraft zu werden, weil sie im Dienst des Staates stehen“, sagt Gigerenzer.
Warum sich so viele Deutsche ein System der totalen Überwachung wünschen, haben die Wissenschaftler nicht erhoben. Gigerenzer vermutet: „Viele sind dafür, weil sie denken, dass sie finanzielle oder andere Vorteile davon haben.“ Diese Menschen würden den Hintergrund und die Folgen einer staatlichen Überwachung gar nicht kennen. Die hohen Zustimmungsraten führt Gigerenzer auch auf die Digitalisierung zurück. Denn die Zustimmung bei Menschen unter 30 Jahren ist hoch. „Dadurch, dass Facebook, Google und sogar die Deutsche Post Daten sammeln und in einer Art verwerten, die nicht transparent ist, gewöhnen sich immer mehr Leute daran“, so der Risikoforscher.
Viele Menschen seien sich des Ausmaßes der Überwachung, in der sie schon jetzt lebten, gar nicht bewusst. Deshalb haben Gigerenzer und sein Team in der Studie auch gefragt, wie viel die Deutschen bereit wären, für Onlinedienste zu bezahlen, wenn diese im Gegenzug ihre Daten nicht mehr als Ware verkaufen.
Das Ergebnis: 73 Prozent sind nicht bereit, dafür Geld auszugeben. „Das nennt man das Privatheits-Paradox: Man redet noch über die Werte, aber man ist nicht mehr bereit, auch nur einen einzigen Cent dafür zu bezahlen“, sagt Gigerenzer.