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Interview: Baerbock (Grüne) fordert Aufnahme jesidischer Frauen und Kinder in Deutschland

Berlin / Lesedauer: 10 min

Die grüne Spitzenpolitikerin Annalena Baerbock macht sich für die Aufnahme jesidischer Frauen und Kinder in Deutschland stark. Im Interview erzählt sie, warum Eile geboten ist und auf welche Widerstände sie dabei trifft.
Veröffentlicht:27.12.2019, 19:00

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Das Leid der jesidischen Frauen und Kinder, die vom IS verschleppt und gequält wurden, beschäftigt auch die Parteivorsitzende der Grünen, Annalena Baerbock. Gemeinsam mit Volker Kauder (CDU) und Thomas Oppermann (SPD) setzt sie sich dafür ein, dass ein deutsches Sonderkontingent für die geflüchteten Jesidinnen eingerichtet wird – nach dem Vorbild Baden-Württembergs. Claudia Kling und Hendrik Groth haben Annalena Baerbock in Berlin zum Interview getroffen.

Frau Baerbock, Sie haben im Juni jesidische Flüchtlingscamps im Nordirak besucht. Was waren die eindrücklichsten Momente Ihrer Reise?

Die Gespräche mit den Frauen in den Camps. Die Söhne einer Frau waren gerade aus der Gefangenschaft beim sogenannten „Islamischen Staat“ zurückgekehrt. Der eine neun, der andere ungefähr elf Jahre alt. Beide wurden vom IS verschleppt – jahrelange Gehirnwäsche, militärische Ausbildung. Der Neunjährige hat sich verhalten wie ein Dreijähriger. Der Ältere sprach gar nicht mehr. Die Mutter war zwar überglücklich, ihre Söhne wieder zu haben, aber sie war verständlicherweise überfordert mit dem Zustand der Kinder. Im zweiten Camp sprach ich mit jesidischen Frauen, die über Jahre vom IS versklavt, misshandelt und vergewaltigt wurden. Für einen Teil von ihnen ist diese Hölle noch nicht vorbei, auch wenn der Irak mittlerweile vom IS befreit ist. Eine musste ohne ihr Kind fliehen, weil es aus der Vergewaltigung gezeugt wurde – es ist nach irakischem Recht und jesidischem Brauch kein Jeside, weil Name und Religion an die Väter geknüpft sind. Da fehlen einem die Worte.

Wie haben Sie die Menschen in den Camps erlebt? Welche Hoffnungen, Sehnsüchte, Ängste haben Sie wahrgenommen?

Gerade bei den Kindern gibt es Hoffnung, wenn sie zur Schule gehen können. Das lenkt sie ab, aber das Leid tragen sie weiter mit sich rum. Die Situation ihrer Familien ist nach wie vor sehr schwierig: Sie wohnen im staubigen Nirgendwo, Zelt an Zelt, wissen nicht, wie es weitergehen soll. Zurück in ihre Heimat können oder wollen sie nicht, weil alles zerstört und zu unsicher ist, oder ihre früheren Nachbarn freiwillig oder zwangsweise mit dem IS kollaboriert haben. Was soll aus diesen Menschen werden? In den beiden Camps, in denen ich war, gab es nicht viel mehr als Notversorgung. Andere Camps, wie das Flüchtlingscamp Mam Rashan, sind Leuchtturmprojekte, die dank der Unterstützung auch aus Deutschland, auch Ihrer Leser, sehr viel besser für die geflohenen Menschen sorgen können.

Woran mangelt es den Menschen am meisten?

An Perspektiven. Die Menschen haben zwar Zuflucht gefunden, aber viele von ihnen sind schwersttraumatisiert. Da leben Kinder, die ihre Eltern verloren haben, Frauen, die vom IS jahrelang versklavt und vergewaltigt wurden, Männer, die mit ansehen mussten, wie ihre Familien verschleppt wurden. Aber die medizinische und psychologische Versorgung in den Camps ist rudimentär. Auch Schulunterricht für die Kinder ist in manchen Camps ein Problem, Beschäftigung oder Arbeit zu finden ebenfalls. Keine Ablenkung, keine Aufgabe zu haben, das ist ein Teufelskreis.

Sie haben erwähnt, dass Sie mit einer Frau sprechen konnten, die ein Kind zurücklassen musste, weil der Vater des Kindes ihr IS-Vergewaltiger war. Wie kam die Frau mit dieser Situation zurecht?

Ich habe mit vielen Akteuren über diese Situation gesprochen, weil es leider kein Einzelfall ist. Der Schmerz dieser Frauen ist unermesslich, selbst wenn einige sich bewusst dafür entschieden haben. Mein Eindruck ist: Wenn sie noch andere Kinder haben, hilft das in manchen Fällen, irgendwie weiterzumachen. Aber der Verlust und der innere Konflikt bleiben für immer. Viele tragen die Fotos ihrer Kinder bei sich, einige versuchen heimlich Kontakt zu halten, mit PKK-Kämpfern, den wenigen Waisenhäusern und Lagern in Nordsyrien oder auch Mossul, wo sie ihre Kinder zurückgelassen haben. Die Frauen leben in einer aussichtslosen Situation und klammern sich an jeden Strohhalm, der Hoffnung verspricht – sei es auch nur ein Besuch von Menschen aus Deutschland.

Wie groß ist der Druck der jesidischen Familien auf diese Frauen, die Kinder aus Vergewaltigung zurückzulassen?

Als die ersten vom IS vergewaltigten Frauen aus der Gefangenschaft zurückkamen, hat Baba Sheikh, das geistliche Oberhaupt der Jesiden, sie im Heiligtum gesegnet und ihnen so ermöglicht, zu ihren Familien zurückzukehren. Im Frühjahr dieses Jahres gab es dann eine Empfehlung des Hohen Rats der Jesiden, auch die Kinder aus den IS-Vergewaltigungen als Teil der jesidischen Gemeinschaft zu akzeptieren. Aber diese Entscheidung wurde nach wenigen Tagen wieder zurückgenommen. Es gab wohl Druck, auch von jesidischen Gemeinden im Exil, die Rückkehr der Frauen nur zu akzeptieren, wenn sie ihre Kinder – deren Väter IS-Kämpfer und wahrscheinlich Muslime sind – zurücklassen. Für die Frauen, die schon einmal durch die Hölle gegangen sind, ist das eine unerträgliche Qual. Eine solche Entscheidung hat einige in den Selbstmord getrieben, andere verharren in syrischen Lagern oder gar bei ihren Peinigern, um ihre Kinder nicht zu verlieren. Der Genozid an den Jesiden ist für diese Frauen Gegenwart. Zum Glück gibt es einzelne Familien, die ihre Töchter mit den Kindern stillschweigend wieder aufgenommen haben.

Kam dieser Druck auch aus Deutschland?

Ja auch. Aber es gibt auch sehr deutliche Stimmen von Jesiden in Deutschland, wie die der Journalistin Düzen Tekkal mit ihrer Menschrechtsorganisation Hawar.help oder des Traumatologen Jan Ilhan Kizilhan, die alles versuchen, an der Situation etwas zu ändern.

Gibt es in dieser Frage inzwischen Bewegung?

Es gibt tatsächlich im Irak ganz zaghafte Versuche, gerade von Frauenorganisationen, an den patriarchalen gesetzlichen Regelungen über die Religions- und damit Namensweitergabe an die Kinder etwas zu ändern. Zugleich gibt es auch dort einzelne Stimmen in der jesidischen Gemeinschaft, die es als Pflicht der Jesiden sehen, diese Kinder zu schützen. Das Problem ist aber: Die Frauen haben keine Zeit. Sie müssen sich in den syrischen Lagern entscheiden – jetzt. Und die bereits getrennten Kinder, die allesamt noch sehr klein sind, vergessen jeden Tag ein wenig mehr, wer ihre Mütter sind. Diese Frauen, diese Kinder können nicht warten, bis sich irgendwann das irakische Personenstandsrecht verändert hat. Wir müssen ihnen heute helfen.

Sie haben sich im Sommer zusammen mit den Bundestagsabgeordneten Volker Kauder ( CDU ) und Thomas Oppermann (SPD) für ein deutsches Sonderkontingent für diese jesidische Frauen stark gemacht. Wird es dazu kommen?

Das ist ein dickes Brett. Für ein Sonderkontingent des Bundes braucht es die Zustimmung des Innenministeriums und Auswärtigen Amtes oder eine Mehrheit im Bundestag. An beidem arbeiten wir drei intensiv. Wir wollen diesen wenigen hundert Frauen einen Ausweg aus ihrer Zwangslage geben, indem wir ihnen Schutz in Deutschland bieten. Leider stoßen wir nicht nur auf offene Ohren, weil der Völkermord an den Jesiden aus den Schlagzeilen herausgerutscht ist. Diejenigen, die am verletzlichsten sind, Frauen und Kinder, finden in Kriegen und Krisen oft am wenigsten Gehör.

Welche Argumente führen die Gegner eines solchen Sonderkontingentes an?

Ein sehr technisches. Dass es bereits genügend Programme und Möglichkeiten für Geflüchtete gäbe. Allerdings greift leider keines davon für diese jesidischen Frauen und Kinder. Im Nordirak herrscht ja kein Krieg mehr, daher sind sie keine „klassischen Kriegsflüchtlinge“. Das sogenannte Resettlement, mit dem besonders schutzbedürftige Flüchtlinge aus Flüchtlingslagern in anderen Ländern aufgenommen werden können, kommt auch nicht in Frage, da sie größtenteils wieder in ihrem eigenen Land sind, als Binnenvertriebene. Genau deswegen schlagen wir eine Aufnahme aus humanitären Gründen für diese spezielle Gruppe vor.

Aber wäre es nicht dennoch besser, für sie vor Ort Schutzräume und Lebensperspektiven zu schaffen?

Natürlich ist es am besten, wenn Menschen nahe ihrer Heimat Schutz und Zuflucht finden. Das funktioniert aber im Falle dieser Frauen nicht. Wo sollen sie denn hin mit ihren Kindern, wenn man droht, sie zu verstoßen? Der Weg zu ihren Familien ist ihnen verbaut. Durch Name und Pass sind die Kinder für ewig als IS-Kinder gebrandmarkt. Obwohl die Gebiete des Nordiraks und des Zentraliraks vom IS befreit sind, sind diese Frauen nicht befreit worden. Wenn man ihnen jetzt nicht hilft, werden sie auf ewig ihre Kinder verloren haben. In Europa aber können die Kinder aus der Gefangenschaft Jesiden sein, weil hier das irakische Recht nicht greift.

Was werden Ihre nächsten Schritte sein, um das Sonderkontingent voranzubringen?

Wir werden noch einmal auf das Innenministerium zugehen, und wenn von der Bundesregierung dann nichts kommt, unsere Initiative in den Bundestag einbringen. Dann wird es auf jede Stimme ankommen, um eine Mehrheit dafür zu bekommen. Auf der letzten Innenministerkonferenz hat die Hälfte der Bundesländer bereits zugesagt, diese Frauen und Kinder aufzunehmen oder das Programm zu unterstützen. Die Plätze stehen also bereit. Der Vorteil eines Bundeskontingents ist, dass sich unterschiedliche, kleinere Aktivitäten der Länder bündeln lassen. Das wäre auch bei der Auswahl vor Ort und der Prüfung von Sicherheitsauflagen, die zu Recht bestehen, am effektivsten. Wie das funktionieren kann, hat Baden-Württemberg vor gut vier Jahren vorgemacht, als die Landesregierung rund 1000 jesidische Frauen in einem Sonderkontingent aufgenommen hat. Die Strukturen, die damals geschaffen wurden, können wir jetzt erneut nutzen.

Wäre die grün-schwarze Landesregierung wieder mit an Bord?

Baden-Württemberg könnte die Infrastruktur vor Ort bereitstellen, andere Bundesländer wie Niedersachsen, Berlin, Thüringen und Hamburg würden die Frauen aufnehmen. Die Landesregierung hat zudem in der nordirakischen Provinzhauptstadt Dohuk den Aufbau eines Trauma-Zentrums mit unterstützt. Dort könnten die jesidischen Frauen ausgewählt werden, die für das Sonderkontingent infrage kommen. Wir wissen bereits von 160 Frauen, deren Kinder zum Teil noch in Syrien sind, und denen dringend geholfen werden müsste; die Traumatologen in Dohuk haben schon Kontakt zu ihnen.

Sehr viele Jesiden wollen inzwischen den Irak verlassen, weil sie dort keine Zukunft mehr sehen. Wie beurteilen Sie die Lage?

Unser Sonderkontingent richtet sich speziell an besonders schutzbedürftige jesidische Frauen und Kinder. Aber natürlich ist die Situation für alle nach wie vor 1,8 Millionen Binnenvertriebene im Irak, darunter 300 000 Jesiden in Camps, enorm schwierig. Die Sicherheitslage in ihren Heimatorten ist hoch problematisch. Durch den IS wurde viel Infrastruktur vernichtet.

Was könnte Deutschland tun, um die Situation zu verbessern?

Die deutsche und europäische Entwicklungshilfe ist bereits sehr aktiv – beim Wiederaufbau, auch in einigen Flüchtlingscamps und mit Blick auf die Situation in der Stadt Mossul. Hindernisse sind aber die schwierige Zusammenarbeit zwischen dem Nordirak und der irakischen Zentralregierung in Bagdad und die schlechte Sicherheitslage in den vom IS befreiten Gebieten. Die Europäische Union müsste auf diplomatischer Ebene mehr dafür tun, um die Gespräche zwischen der kurdischen Regionalregierung und der Zentralregierung in Gang zu bringen. Die Unterstützung der Trauma-Versorgung sollte außerdem dringend verstetigt werden. Nicht nur für die Frauen, sondern gerade für die Tausenden von Jungs – Jesiden, Christen, muslimische Kurden, Sunniten und Schiiten - die vom IS indoktriniert und zum Teil militärisch ausgebildet wurden. Ein unter dem Dach der Vereinten Nationen aufgelegtes Programm zur Reintegration wäre aus meiner Sicht essentiell, um ihnen überhaupt eine vernünftige Chance auf Rückkehr ins Leben zu ermöglichen. Und um Sicherheit zu schaffen.