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Razzia gegen Reichsbürger: Was die Szene so gefährlich macht

Berlin / Lesedauer: 5 min

Razzia gegen Reichsbürger – Warum die Ereignisse die Politik höchst besorgt
Veröffentlicht:07.12.2022, 19:49

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Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach von einem Blick „in den Abgrund einer terroristischen Bedrohung“. Der baden-württembergischen Innenminister Thomas Strobl (CDU) kündigte an, im Kampf gegen den Extremismus auch weiterhin „keinen Millimeter“ nachgeben zu wollen.

Die Nachricht einer Großrazzia in Deutschland, die zur Festnahme von 25 Menschen aus der Reichsbürgerszene geführt hat, erschütterte Politiker in ganz Deutschland. Doch was macht diese sogenannten Reichsbürger so gefährlich? Und hat sich die Szene in den vergangenen Jahren verändert? Hier die wichtigsten Fragen und Antworten zum aktuellen Geschehen und den Hintergründen.

Warum hat der Großeinsatz gegen die Reichsbürgerszene und die daraus resultierenden Festnahmen für so viel Aufsehen gesorgt?

Es sei ein „Netzwerk von historischer Dimension“ entdeckt worden, sagt Benjamin Strasser, parlamentarischer Staatssekretär im Justizministerium und FDP-Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreise Ravensburg, der „Schwäbischen Zeitung“. Aufhorchen lässt einerseits, dass die Beschuldigten bereits einen Plan zum Sturz des politischen Systems ausgearbeitet hatten.

Andererseits waren es die Mitglieder der Gruppe selbst, die die Nachricht so außergewöhnlich machten. Ein Prinz, der aus Hessen stammende Unternehmer Heinrich XIII., eine Richterin, die frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann, und ein Soldat des Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr sind unter den Festgenommenen.

„Was mir Sorgen macht, ist, dass sich hier ein schon länger abzeichnender Trend manifestiert. Unterschiedliche Szenen arbeiten sozusagen kollaborativ zusammen“, so Strasser.

Was sind eigentlich „Reichsbürger“ und was wollen sie?

Sogenannte Reichsbürger vereint, dass sie die Bundesrepublik Deutschland nicht als Staat anerkennen und staatliche Institutionen ablehnen. Deshalb wollen sie auch keine Steuern, Sozialabgaben oder Bußgelder bezahlen, was natürlich zu Konflikte mit den Behörden führt. Laut Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gehören rund 21.000 Menschen in Deutschland dieser Szene an.

Etwa zehn Prozent von ihnen sieht die Behörde als gewaltorientiert an. Bei rund 1150 von ihnen handelt es nach BfV-Angaben um Rechtsextremisten. Eine Zeitlang wurden „Reichsbürger“ und die ihnen nahestehende Gruppe der „Selbstverwalter“ als verquere Randfiguren abgetan und ihr Gewaltpotenzial unterschätzt.

Dabei kam es bereits 2016 zu einem tödlichen Angriff. In Bayern starb ein Polizist, als einem „Reichsbürger“ seine Waffen abgenommen werden sollten.

Ein Schwerpunkt der Razzien war Baden-Württemberg. Dort wurden acht Verdächtige festgenommen, im Bodenseekreise kam es zu Durchsuchungen. Wie groß ist die Reichsbürgerszene im Südwesten?

Der Verfassungsschutz in Baden-Württemberg zählt rund 3800 Personen zur Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ – Tendenz leicht steigend. Im Jahr 2019 waren es noch 3200 gewesen. Auch im Südwesten schätzt das Landesamt für Verfassungsschutz die Bedrohungslage durch diese beiden Gruppen als hoch ein, insbesondere wegen der Vorliebe für Waffen innerhalb der Szene.

2017 wurden deshalb die Waffenbehörden in Baden-Württemberg angewiesen, „Reichsbürgern“, „Selbstverwaltern“ und Extremisten keine waffenrechtlichen Erlaubnisse zu erteilen und bereits erteilte, soweit möglich, zurückzunehmen. Innenminister Strobl teilte mit, von mehr als 400 Waffen, „die in den Händen extremistischer Waffenbesitzer waren“, sei die waffenrechtliche Erlaubnis widerrufen worden.

14 „Reichsbürger“ und neun Extremisten waren aber zum 1. Februar noch im Besitz einer erlaubnispflichtigen Waffe.

Wie hat sich die Reichsbürgerszene während der Corona-Pandemie entwickelt?

Sie ist größer geworden. „Das Corona-Protestgeschehen führte zu einem Zulauf zur Szene und auch zu einer stärkeren Sichtbarkeit von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ gegenüber Behörden und Amtsträgern“, so das Innenministerium in Stuttgart.

Die Verfassungsschutzbehörden in Deutschland haben beobachtet, wie unter dem Einfluss von „Reichsbürgern“ auch die Demonstrationen gegen die staatliche Corona-Politik im Verlauf der Pandemie immer aggressiver geworden ist. So waren etwa bei den Protesten in Berlin am 29. August 2020, als vorübergehend die Treppe des Reichstags erstürmt wurde, neben Rechtsextremen und Verschwörungstheoretikern auch „Reichsbürger“ dabei.

Teilweise hätten sich bestimmte Bereiche der Querdenker-Szene so radikalisiert, dass es nicht bei Kritik an Corona-Maßnahmen geblieben ist, beurteilt Strasser die Lage. Es gehe ihnen um die Abschaffung der Demokratie. „Das ist hochgefährlich, insbesondere, wenn sich Teile des klassischen Bürgertums radikalisieren“, sagt der FDP-Politiker.

Warum suchen radikalisierte „Reichsbürger“ ausgerechnet den Kontakt zur Bundeswehr und zur Polizei, die den Staat ja schützen sollen?

Weil sich so ein Umsturz, wie ihn die festgenommenen Gruppenmitglieder geplant haben sollen, nicht friedlich organisieren lässt. „Wenn Extremisten sogar so weit gehen, einen gewaltsamen Umsturz zu planen, liegt es auf der Hand, dass sie Gesinnungsgenossen mit militärischem Sachverstand und besonderer Expertise gewinnen wollen“, teilt Josef Rauch, stellvertretender Landesvorsitzender Süddeutschland des Bundeswehrverbands auf Anfrage mit.

Die Sensibilität von Vorgesetzten hinsichtlich auffälliger, nicht demokratisch wirkender Äußerungen oder Verhaltensweisen ihrer Untergebenen sei zwar „ausgesprochen hoch“. Das schließe aber nicht aus, dass es nach Feierabend oder am Wochenende „zu staatsfeindlichen Umtrieben“ kommen könne, die weder mit dem Soldatenberuf noch mit dem Diensteid vereinbaren seien, so Rauch.

Wie reagiert die AfD auf die Nachricht, dass ein Parteimitglied zur Gruppe der Festgenommenen gehört?

Die Bundesvorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla teilten mit, dass sie von der Großrazzia aus den Medien erfahren hätten. Konkret zur Festnahme der Richterin Malsack-Winkemann äußerten sich auf Anfrage nicht. Die Berliner AfD-Vorsitzende Kristin Brinker sagte allerdings, ein Parteiausschlussverfahren wäre die Folge, „sollten sich die Vorwürfe bestätigen“.

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