Es herrscht eine muntere Stimmung im Kurhaus von Fischen, einer Oberallgäuer Gemeinde vor Oberstdorf . Viele Weidmänner und einige Weidfrauen haben sich an diesem Morgen eingefunden. Allerseits ein „Griaß di“, Fachsimpeln, Schulterklopfen. Noch ist nicht absehbar, dass die Atmosphäre eine Stunde später frostig werden würde – und dies wegen der Gams, dem Symboltier der bayerischen Alpen. Für den Moment erfreuten sich die Anwesenden an diesem Frühjahrstag noch an sogenannten Trophäen, präsentiert entlang der Wände des Kursaals: etwa Hirschgeweihe, Kopfschmuck von Rehböcken und auch Krucken des Gamswildes, Hörner könnte man laienhaft sagen.
Präsentiert wird das Erjagte bei einer Hegeschau. Anders als etwa in Baden-Württemberg ist im Freistaat das öffentliche Vorzeigen dieser Beute auf solchen Veranstaltungen nach wie vor gesetzlich verpflichtend. Üblicherweise ist es ein Hochamt für bayerische Jäger, gefeiert mit viel Unterstützung durch Jagdhornbläser. Gleichzeitig nutzt aber auch gerne die Obrigkeit diese Hegeschauen, um der Weidmannschaft den Marsch zu blasen, sollte sie es für nötig halten.
In Fischen war dies heuer mal wieder der Fall. Als Zuchtmeister trat der Oberallgäuer Landrat Anton Klotz vors Saalmikrofon, ein stabil gewachsener CSU-Mann. „Die Abschussvorgaben beim Gamswild und bei den Hirschen sind nicht erfüllt worden“, schimpfte er. Gemeint sind die amtlich festgelegten Erlegungszahlen. Sie wurden um sechs Prozent unterschritten. Unverhohlen drohte Klotz mit Folgen: „Dies schaue ich mir nicht mehr länger an.“
Endlich mehr schießen
Die Jäger sollten mehr schießen, forderte er. Vor allem die Gams hatte Klotz im Visier. Womit ein erbittert geführter alpiner Konflikt nun auch das Oberallgäu erreicht hatte. Dabei steht die Frage im Raum, ob dem Gamswild mit dem Segen der Staatsregierung in München die Ausrottung droht. Oder anders ausgedrückt: ob ausgerechnet die auf jeder weißblauen Traditionsveranstaltung vertretenen CSU-Granden nichts für das Traditionstier übrig haben. Immerhin wird der Gams von Berchtesgaden über Garmisch bis nach Oberstdorf im Volksbrauch gehuldigt – für Touristen oft sichtbar durch übergroße Gamsbärte an den Hüten der bayerischen Gebirgsschützen.
Die Gamsverehrung hat viele Facetten. In der bayerischen Gebirgsfolklore galt lange Zeit ein Bursch, der hoch oben in den Felsen einem solchen Tier erfolgreich nachpirschte, als wagemutiger Held. Womöglich kann man sich aber in naher Zukunft solche Mühen sparen – zumindest dort, wo der Staatsforst das Sagen hat. Er verwaltet rund 80 Prozent aller Gebiete mit Gamsvorkommen – attraktive Gebirgsregionen wie etwa bei der Zugspitze. In ihnen hat die Gams in den vergangenen Jahren jedoch eine erstaunliche Degradierung erfahren. Sie wird häufig aus forstlicher Sicht als Schädling gesehen – ähnlich wie der Borkenkäfer.
Wie die Forderung amtlich begründet wird, hat Landrat Klotz in Fischen in Erinnerung gerufen: „Gamswild verbeißt den Schutzwald.“ Bergbewohnern ist klar, auf was der Mann hinauswill: Waldstreifen an den Hängen vermögen darunter liegende Orte vor Lawinen und Erdrutschen schützen – sofern Bäume und Bäumchen gut wachsen. Knabbert Wild daran herum, könnte dies eventuell nicht mehr gewährleistet sein.
Klotz hegt diese Angst. Die Bevölkerung sei durch die Gams gefährdet, legte er nahe und beschwörte fast schon den alpinen Untergang. Worauf die Gesichter der Jäger im Kursaal länger wurden, teilweise vom Ärger auch rot. Sie fürchten um die Gamsbestände in ihren teilweise für viel Geld gepachteten Revieren. Vereinzelt haben sich in dieser Frage auch schon Hoteliers und Tourismusmananger zu Wort gemeldet – wegen der Sensibilität des Themas hinter vorgehaltener Hand.
Bei der ganzen Auseinandersetzung sind sich die Kontrahenten aber noch nicht einmal sicher, auf welche Bestandszahlen sie sich berufen können. Der renommierte Schweizer Wildbiologe Peter Meile hat vor drei Jahren geschrieben: „Seit Jahren stellen wir fest, dass die Gamsbestände rückläufig sind, nicht nur in einzelnen Revieren, sondern in großen Teilen des ganzen Alpenbogens.“ Als Lebensraum-Konkurrenz ortet Meile Zweibeiner: Zug um Zug werde die Gams von Wanderern, Joggern, Mountainbikern oder Skitourengehern in immer abgelegenere Gebiete gedrängt. Dies beantwortet jedoch noch nicht die Frage, ob etwa in den bayerischen Alpen die Bestände auch abnehmen. Dies soll nun mittels einer Studie geklärt werden.
Bis Ergebnisse vorliegen, behilft sich aber zumindest das bayerische Landwirtschafts- und Forstministerium andersweitig. Es nimmt für die Bestandsschätzung einfach die jährlichen Abschusszahlen her. Ein Ministeriumssprecher berichtet, sie würden sich in den vergangenen Jahren auf einem konstanten Niveau bewegen. Es liegt jeweils bei etwas über 4000 Tieren. „Eine nachhaltige Bejagung ist sichergestellt“, glaubt der Sprecher. Pro-Gams-Aktivisten deuten diese Zahlen aber anders. Sie würden nur deshalb noch so hoch liegen, weil in den Staatsforstrevieren auf Teufel komm raus gejagt würde.
Von der Hand zu weisen ist der Vorwurf nicht. Ganz offiziell existieren Forstbereiche, in denen es um einen Totalabschuss geht. Sie sind besonders verbissgefährdet. Jegliche Schonzeit wurde in solchen Ecken von Amtswegen aufgehoben. Gamskitze fallen noch bei tiefstem Schnee der Kugel zum Opfer. Vom „Kindermord“ spricht deshalb Christine Miller . Sie kommt vom Tegernsee, ist Wildbiologin und gehört zur Mitgründerin des 2015 ins Leben gerufenen Wildtier-Schutzvereins Wildes Bayern. Dies würde noch niemanden aufregen. Miller hat sich aber den Ruf der lautesten Gamsschützerin im Freistaat erarbeitet.
Nach Millers Beobachtungen wird das geschossene Gamswild „immer jünger“. Sie geht deshalb davon aus, dass die Bestände „kurz vor dem Kollaps“ stehen. Vergangenes Jahr wollte Miller einen definitiven Nachweis für das vermutete wahllose Schießen erbringen. Die Idee war, in Gebirgsregionen mit sehr viel Forstanteil die entsprechenden Hegeschauen zu besuchen. Am Ende gab es Händel und festgefügte Fronten. Als Millers Interesse publik wurde, waren auf einer solchen Schau die Altersangaben der im Forstbereich erlegten Tiere auf den Trophäen-Begleitzetteln plötzlich geschwärzt. Bei der nächsten Veranstaltung war das Alter ganz weggelassen worden. Nun könnte man die Lebensjahre einer Gams an der Krucke, dem Horn, abzählen.
Bemerkenswerterweise unterstützten lokale Funktionäre des Bayerischen Jagdverbands teilweise das forstliche Handeln. Ansonsten ist man sich oft gerade wegen Abschuss-Streitereien nicht so grün. Vom Prinzip her war das Vorgehen wohl auch legal. Aber es kam der Eindruck auf, der Forst habe etwas zu verbergen. Seitdem ist die Atmosphäre beim Thema Gams völlig vergiftet. Für Miller liegt dabei der Anfang der Misere in einem staatlich finanzierten Programm begründet, das den militärisch strammen Begriff „Bergwald-Offensive“ trägt. Der forstliche Vorstoß begann 2008. Ziel war es, den „Bergwald schon heute an die Wuchsbedingungen von morgen“ anzupassen, wie es in einer Info-Broschüre heißt. Nur so könne er auch künftig seinen Schutzcharakter behalten.
Mit rund zwei Millionen Euro pro Jahr baut der Forst nun Wege ins Hochgebirge, versucht sich in der Waldverjüngung und forstet auf. Immer wieder sieht er sich dabei aber vom Wild gestört. So kommt die Gams speziell winters gerne aus den unwirtlichen Felshängen herunter, wo sich noch Schmackhaftes finden lässt – etwa Baumtriebe. Ein Todesurteil. Selbst ansonsten eher tierfreundlich orientierte Ökoverbände wie der einflussreiche bayerische Bund Naturschutz unterschreiben es. „Mal abgesehen von kurzen Stippvisiten hat die Gams im Schutzwald nichts verloren“, sagt deren Sprecher für alpine Themen, Axel Doering, ein pensionierter Förster. Der Wald sei wichtiger als das Wild. Die Gams gehöre hinaus in die Felsregionen, betont er. Ob dies die Tiere auch wissen, sei dahingestellt. Zumal sie in den Felsen wieder von den Bergfreunden gestört werden.
Auf der Fischener Hegeschau versuchte letztlich noch der Oberallgäuer Kreisjägermeister Heinrich Schwarz, eine Lanze für das Gamswild zu brechen. Er fragte laut in den Saal hinein, ob mit der Schutzwaldsanierung nicht übertrieben werde. In der Tat stellt sich bei mancher völlig abgelegenen Aufforstungsfläche für den waldbaulichen Laien die Frage, was dort geschützt werden soll.
Landrat Klotz, ansonsten auch eher Verwaltungsfachmann, meinte dazu: „Die Heimat.“ Fast drängt sich das Gefühl auf, dass die Gams hier nicht mehr so richtig willkommen ist. Zumindest für Feriengäste auf der Suche nach dem Traditionstier könnte ja auch ein Besuch im Wildpark ausreichen.