Politik
Antiziganismusbeauftragter Daimagüler: Gefahr durch den Rechtsextremismus wird häufig unterschätzt
Berlin / Lesedauer: 6 min

Claudia Kling
Mehmet Daimagüler ist Rechtsanwalt und Buchautor. Im NSU-Prozess hat er von 2011 an die Nebenkläger vertreten, seit Mai 2022 ist er der erste Bundesbeauftragter gegen Antiziganismus. Im Interview sagte er, dass rechtsextrem motivierte Straftaten immer noch nicht als solche erkannt und bekämpft würden. Am Montag ist Daimagüler in Ravensburg zu Gast, um gemeinsam mit der früheren Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Benjamin Strasser, parlamentarischer Staatssekretär im Justizministerium, über „Lehren aus dem NSU-Versagen“ zu diskutieren. Moderiert wird die Veranstaltung vom früheren Chefredakteur der „Schwäbischen Zeitung“, Hendrik Groth.
Herr Daimagüler, seit dem Gaza-Krieg ist auf den Straßen zu beobachten, dass Antisemitismus nicht nur ein Problem von rechts ist. Wurde die Gefahr des importierten Antisemitismus unterschätzt?
Das Problem des Antisemitismus wurde in Deutschland insgesamt unterschätzt. Antisemitismus kommt nicht nur von rechts, sondern allen Richtungen, auch aus dem bürgerlichen Lager. Thilo Sarrazin beispielsweise sprach von einem angeblichen „Juden-Gen“. Die aktuellen Ereignisse sollten uns bewusst machen, dass die Gefahren des Antisemitismus überall in der Gesellschaft zu finden sind. Etwas zynisch gesprochen: Wenn arabischstämmige Einwanderer antisemitisch sein sollten, erfüllen sie in manchen Kreisen die allerbesten Integrationsvoraussetzungen, weil sie auf einen bereits bestehenden Antisemitismus treffen.
Sie haben als Anwalt der Nebenkläger im NSU-Prozess mitgewirkt. Ist die Fokussierung auf den Rechtsextremismus eine Folge der Verbrechen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds?
Die Fokussierung auf diesen Bereich, wenn es sie denn gibt, ist eine Folge der Realität. Wir hatten ja nicht nur den NSU in Deutschland. Zur Realität gehören auch die Morde von Hanau, der tödliche Anschlag in Halle, die Morde am Olympia-Einkaufszentrum in München. Es gibt die Reichsbürgerbewegung, es gab die neonazistische „Old School Society“ und die „Gruppe Freital“, die rechtskräftig verurteilt wurden. Ich könnte weitere Beispiele aufzählen, die belegen, dass wir uns noch nicht genug um die Gefahren des Rechtsextremismus kümmern, der unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung bedroht. Und in fast allen deutschen Parlamenten sitzen Neo-Nazis.
Wie groß ist die Gefahr, dass rechte Bewegungen infolge der hohen Migrationszahlen mehr Zulauf bekommen?
Zu sagen, dass steigende Migrationszahlen den Rechtsradikalismus befeuern, ist mir in seinem Automatismus etwas zu simplifizierend. Das Problem des Rechtsterrorismus bestand in der gesamten Zeit der Bundesrepublik, unabhängig von den Einwanderungszahlen. Die Art und Weise, wie wir über Migration sprechen, hat eine Auswirkung darauf, wie sich dieses Problem entwickelt, nicht die Tatsache, dass es Einwanderung gibt. Wenn ‐ wie zu Beginn der 1990er-Jahre geschehen ‐ mit Das-Boot-ist-voll-Parolen Stimmung gemacht wird und mit Untergangsszenarien Ängste geschürt werden, werden rechtsextreme Rattenfänger groß gemacht. Durch die aktuelle Debatte werden rechtsradikale Positionen zunehmend gesellschaftsfähig.
Als die NSU-Morde bekannt wurden, fragten sich viele, wie es sein konnte, dass diese Gruppe so lange unentdeckt blieb ‐ und es wurde über Polizei- und Behördenversagen diskutiert. Ist der Staat inzwischen besser in der Lage, die Menschen hierzulande zu schützen?
Ja und nein. Auf der einen Seite haben wir eine Bundesanwaltschaft und Sicherheitsbehörden, die beim Thema Rechtsradikalismus sehr viel hellhöriger sind. Dennoch sehe ich, dass unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle rechtsextrem motivierte Straftaten immer noch nicht als solche erkannt und bekämpft werden.
Woran liegt das?
Manchmal ist es Schlampigkeit und Unprofessionalität, zuweilen auch am Desinteresse von polizeilicher Seite. Häufig wird die Gefahr durch den Rechtsextremismus einfach unterschätzt, weil Straftaten aus dem linksextremen Milieu als gefährlicher eingestuft werden. Ein Beleg dafür ist der Umgang mit den Reichsbürgern. Diese Bewegung wurde über Jahre hinweg als spinnerte Folklore-Truppe verharmlost ‐ bis Schüsse fielen und Polizeibeamte starben. Auch neu geschaffene gesetzliche Strukturen greifen noch nicht so richtig. Um ein Beispiel zu nennen: Der Paragraf 46 Absatz 2 Strafgesetzbuch wurde so abgeändert, dass spezielle hasskriminelle Tatmotivationen ‐ etwa Rassismus oder Antisemitismus ‐ bei der Strafzumessung berücksichtigt werden können. Ob diese Neuregelung wirkt, wissen wir aber nicht, da aussagekräftige Statistiken fehlen. Die meisten Strafverfahren, mehr als 80 Prozent, werden eingestellt. Bei den anderen wird das Tatmotiv, wenn überhaupt, erst vor Gericht festgestellt. Deswegen brauchen wir Verlaufstatistiken und nicht nur polizeiliche Eingangsstatistiken.
Wie gingen Sie in Ihrer anwaltlichen Praxis mit Fällen von Hasskriminalität um?
Ich erinnere mich an ein homosexuelles Paar, das auf der Straße von Jugendlichen homophob beleidigt und geschlagen wurde, weil es keine Zigaretten hatte. Als ich die Polizeiakte über diesen Vorfall bekam, stand mit keinem Wort drin, dass schwulenfeindliche Sprüche gefallen waren. Damit fand eine Entpolitisierung des Vorfalls statt. Ähnlich war es bei zwei muslimischen Frauen, die attackiert und rassistisch beleidigt wurden, ohne dass dies in der Anzeige berücksichtigt wurde. Ich habe dafür gekämpft, dass solche Fälle nicht einfach mit dem Verweis auf Alltagskriminalität eingestellt werden.
In welchem Verhältnis stehen Ihre praktischen Erfahrungen zur politischen Debatte in Deutschland?
Mich stört das Ausblenden politischer Realitäten, die Verkürzung auf Schlagworte wie „importierter Antisemitismus“. Jeder Angriff auf Juden, auf Muslime, auf Sinti und Roma und andere Minderheiten ist eine deutsche Realität. Die Schlagworte lenken nur davon ab, dass wir als Gesellschaft ein Problem haben und es bessere Mechanismen braucht, um Minderheiten zu schützen. Immerhin hat der NSU-Skandal eine stärkere Sensibilisierung im Umgang mit Minderheiten zur Folge gehabt. Mitarbeiter auch innerhalb des Polizeiapparats haben inzwischen den Mut, den Mund aufzumachen. Diese Haltung müssen wir fördern.
Sie sind seit eineinhalb Jahren Antiziganismusbeauftragter der Bundesregierung. Warum braucht es diese Stelle?
Der Antiziganismus ist gesellschaftlich so verbreitet und akzeptiert, dass er gar nicht als rassistisch wahrgenommen wird. Es ist das letzte Reservat, in dem Rassisten ihren Rassismus scheinbar ungestraft frönen können. Wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg den Völkermord an Sinti und Roma nicht wirklich anerkannt. Es dauerte 37 Jahre, bis Helmut Schmidt im Jahr 1982 das Wort Völkermord in den Mund nahm. Die Kriminalisierung der Sinti und Roma hat 1945 nicht aufgehört, sondern zieht sich bis heute durch. Selbst im Staatsapparat hält sich bei manchen die Haltung, man könne sich alles erlauben, wenn Sinti und Roma betroffen sind. Bei einem meiner letzten Fälle ging es um einen elfjährigen Jungen in Singen, der von vier Polizeibeamten misshandelt worden war ‐ ohne dass er sich etwas zu Schulden hatte kommen lassen. Am Ende des Verfahrens wurden die Beamten nur milde bestraft.
Was wollen Sie in Ihrer Position konkret erreichen?
Für mich ist es ein wichtiges Anliegen, dass unsere Gesellschaft verinnerlicht, dass es einen Völkermord an Sinti und Roma gegeben hat, und wir uns zu dieser historischen Schuld bekennen, anstatt die Nachfahren weiter zu diskriminieren. Diese Menschen werden seit Jahrhunderten an den Rand gedrängt. Vielen fehlt die Kraft, sich gegen Hass und Rassismus zur Wehr zu setzen. Wir müssen aber auch wegkommen von der reinen Negativdiskussion. Sinti und Roma haben unser Leben, unsere Kultur und Kunst auf vielfältige Weise positiv beeinflusst. Das sollte in den Schulbüchern gewürdigt werden, damit sie in der öffentlichen Wahrnehmung den Platz bekommen, den sie verdienen.