Der suchende Westfale
Kardinal Marx feiert Jubiläum: Zum 70. Geburtstag lässt er's krachen
Politik / Lesedauer: 10 min

Ludger Möllers
Machtmensch, Alphatier in Kardinalsrot, barocker Kirchenfürst, zugleich Reformbischof, fortschrittlicher Sozialethiker, Vertrauter von Papst Franziskus: Der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, würde wohl zustimmend nicken, läse er diese Zeilen über sich selbst.
Er würde hinzufügen: „Vor allem aber bin ich ein Suchender, immer auf der Suche nach Gott.“
Marx, ein Kirchenreformer?
Wer Marx, den Gottsucher, der am Mittwoch 70 Jahre alt wird, wirklich kennenlernen will, besucht daher einen Gottesdienst, in dem der Kardinal predigt. Oder liest nach, was er zu sagen hat - beispielsweise zu den Gedanken des Propheten Jesaja über die Wirkung des Wortes Gottes: „Es kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will, und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe.“
Marx interpretiert: „Diese Wirkung des Wortes Gottes ist nicht einfach nach menschlichen Maßstäben zu messen. Gottes Wort wirkt, wie er es will und bewirkt, was er will!“ Diese Wirkung sei manchmal menschlichen Augen verborgen und entfalte sich erst langfristig, dann aber umso nachhaltiger. Marx erkennt: „Unsere Möglichkeiten der empirischen Erfassung reichen nicht aus, um diese Wirkung ganz zu erkennen.“

Heute wirkt Marx als Kirchenreformer: Im März vergangenen Jahres feierte er mit der bislang von seinem Bistum eher stiefmütterlich behandelten queeren katholischen Gemeinde in München einen Gottesdienst, er fordert inzwischen auch einen Diskurs über die katholische Sexuallehre und sagt, er könne sich durchaus vorstellen, selbst homosexuelle Paare zu segnen: „Warum nicht?“ Auch eine Diskussion über den Pflichtzölibat für katholische Priester regt er an. Bis zu diesen Positionen war es für den Jubilar ein weiter Weg.
Jugendjahre in volkskirchlicher Tradition
Marx wird am 21. September 1953 in Geseke (Westfalen) geboren. Dort wächst er in volkskirchliche Traditionen hinein. Er studiert Theologie und Philosophie in Paderborn, Paris, Münster und Bochum. Mit-Studenten erinnern sich an einen damals schon ehrgeizigen Theologen, der mit römischem Kollar als Priester stets erkennbar, einer guten Zigarre in der einen und einem Bierglas in der anderen Hand, große Runden intellektuell zu faszinieren wusste.
Nach diversen kirchlichen Ämtern wird er 1996 Weihbischof in Paderborn. 2002 wird Marx Bischof von Trier, mit 48 Jahren damals der jüngste deutsche Diözesanbischof.
In diesen frühen Bischofsjahren gilt der Westfale als absolut Rom-treuer, konservativer Oberhirte. So suspendiert er 2003 den Saarbrücker Hochschullehrer Gotthold Hasenhüttl und entzieht ihm die kirchliche Lehrerlaubnis als Professor. Hasenhüttl hatte zuvor das Abendmahl auch an Protestanten ausgeteilt.
Warnung vor der Zügellosigkeit der Märkte
Über die Grenzen seines Bistums hinaus macht sich Marx vor allem in Fragen der katholischen Soziallehre einen Namen. Sie ist für ihn „Teil der Verkündigung“. Christen müssten auch die Frage nach der Gerechtigkeit in der Gesellschaft stellen. Bei Diskussionen zu diesen Themen blüht Marx auf und spricht druckreife Sätze. Sein Buch „Das Kapital“ ‐ in Anlehnung an das gleichnamige Werk seines Namensvetters Karl Marx ‐ ist eine energische Warnung vor der Zügellosigkeit der Märkte.
Im November 2007 ernennt Papst Benedikt XVI. den damals 54-Jährigen zum Münchner Erzbischof, drei Jahre später wird er Kardinal, wieder ist er für einige Zeit der jüngste in dem Kreis. Leicht fremdelnd nehmen die Gläubigen in Oberbayern ihren aus Westfalen stammenden neuen Oberhirten auf.
Reinhard Kardinal MarxZur Demut gehört die Kraft der Geduld, der Offenheit für andere Meinungen, die Bereitschaft, nach der Wahrheit zu suchen und sie nicht einfach selbstherrlich für sich selbst zu beanspruchen.
Doch beide Seiten gewöhnen sich rasch aneinander, der leutselige Kirchenmann Marx, der die volkskirchliche Seele der Bayern zu schätzen weiß, gewinnt die Herzen vieler „Schäfchen“ mühelos. Bei seinen Besuchen in den Pfarreien sucht Marx den Kontakt mit Jung und Alt. Bei einem Glas Bier kommt er rasch ins Gespräch mit dem Kirchenvolk.
Mit seiner zupackenden Art erledigt er sowohl die Strukturreform im Erzbistum hin zu großen Pfarrverbänden als auch die Neuaufstellung des Erzbischöflichen Ordinariates. Kritiker sagen, Marx kehre sein Haus mit eisernem Besen.
Nah am Papst
Papst Franziskus, der 2013 auf Benedikt XVI. folgt, wird früh in seiner Amtszeit auf den mediengewandten Deutschen aufmerksam und beruft ihn in eine achtköpfige Kardinalsgruppe, die den Heiligen Vater bei der Leitung der Weltkirche beraten soll. Dem Gremium gehört Marx bis März 2023 an.

Im März 2014 folgt die Ernennung zum Koordinator des neu errichteten Wirtschaftsrates, der über die Strukturen und die wirtschaftlichen und administrativen Angelegenheiten des Heiligen Stuhls und des Staates der Vatikanstadt wacht. Die Gründung einer Art Finanzministerium im Vatikan, das alle Geldgeschäfte kontrollieren soll, ist das spektakulärste Ergebnis dieser Zusammenkunft. Von 2012 bis 2018 ist er zudem Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der EU.
Einer breiten Öffentlichkeit wird Marx bekannt, als er 2014 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz wird. Seine Mitbrüder wählen ihn weniger aus Zuneigung: Vielmehr wird ein Mann gebraucht, der vorzeigbar, selbstbewusst und intellektuell brillant die katholische Kirche vertritt. Marx muss lernen, dass er als Vorsitzender der Bischofskonferenz nicht etwa Chef der deutschen Katholiken oder gar der Bischöfe ist, sondern eher Moderator. Er selbst mahnt bei seinen Mitbrüdern zwei Haltungen an, „die in unübersichtlichen Situationen wichtig sind: Die Haltung der Demut und der Freiheit.“
Marx selbst weiß, dass Demut nicht zu seinen größten Stärken zählt. So mahnt er sich sich selbst: „Zur Demut gehört die Kraft der Geduld, der Offenheit für andere Meinungen, die Bereitschaft, nach der Wahrheit zu suchen und sie nicht einfach selbstherrlich für sich selbst zu beanspruchen.“
Mann der Freiheit
Eher ist der Westfale ein Mann der Freiheit: „Zur Freiheit gehört Mut, sich von Mehrheitsmeinungen zu unterscheiden, auch ungewöhnliche Wege zu gehen, sich nicht anzupassen, sondern eigenen Überzeugungen zu folgen.“
Apostels Paulus, Marx' BischofsmottoWo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.
Das Thema der Freiheit beschäftigt Marx schon lange. Er wählt ein Wort des Apostels Paulus als Bischofsmotto: „Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.“ Marx erklärt: „Paulus will den Christen deutlich machen: Wenn ihr teilnehmt an dieser unglaublichen Auferstehungserfahrung, dann ist das eine Befreiung. Wo der Geist Gottes wirkt, da wird nicht eingeengt, unterdrückt, schwach gemacht, klein gemacht, nach unten gezogen, sondern da wird der Mensch nach oben gezogen.“
Heute mahnt Marx: „Wir stehen in unseren Tagen vielleicht an einem Wendepunkt der Freiheitsgeschichte. Es scheint mir nicht entschieden zu sein, ob wir eine Kultur der Freiheit bewahren und weiterentwickeln im Blick auf alle Menschen oder ob wir einen Weg einschlagen, der in autoritäre, vielleicht sogar totalitäre Modelle zurückführt, die die Freiheit ideologisch unterhöhlen. Es gibt eine Furcht vor der Freiheit.“
Missbrauchsskandal führt zum Umdenken
Freiheit? In der katholischen Kirche? Bei Kardinal Marx führt vor allem der Missbrauchsskandal zu der Erkenntnis, dass ein „Weiter so“ völlig undenkbar ist. Er formuliert nach der Veröffentlichung einer bundesweiten Studie zum Missbrauch durch Kleriker im September 2018: „Ganz klar muss gesagt werden: Sexueller Missbrauch ist ein Verbrechen. Wer schuldig ist, muss bestraft werden. Allzu lange haben wir in der Kirche weggeschaut, vertuscht, geleugnet. Wollten es nicht wahrhaben. Für alles Versagen und allen Schmerz muss ich als Vorsitzender der Bischofskonferenz um Verzeihung bitten und tue es auch ganz persönlich.“
Reinhard MarxBei mir jedenfalls hält die Erschütterung darüber an, dass ,Schein’ und ,Sein’ in der Kirche selbst so eklatant auseinanderfallen konnten.
Und er fordert Konsequenzen: „Die kirchlichen Skandale und Krisen der letzten Jahre haben die Dringlichkeit zur Erneuerung unterstrichen“, sagt er im Jahr 2020: „Bei mir jedenfalls hält die Erschütterung darüber an, dass ,Schein’ und ,Sein’ in der Kirche selbst so eklatant auseinanderfallen konnten.“
Ein Schuldeingeständnis ohne sichtbare Konsequenzen, monieren Kritiker. Die Entschädigungsfrage sei noch nicht geklärt. Eine unabhängige Aufarbeitung der Fälle in den einzelnen Bistümern stehe noch aus. Hier sei es Marx nicht gelungen, alle Mitbrüder auf seine Zielvorgaben zu verpflichten. „Marx ist seiner ostwestfälischen DNA immer treu geblieben, das heißt er ist weiterhin ein konservativ-klerikal denkender Mann, der sich jovial, volkstümlich gibt, im Kern aber das männlich-klerikale Ideal der Kirche lebt“, sagt der Kirchenrechtler Thomas Schüller von der Universität Münster.
Auf dem Synodalen Weg
Marx stößt allen Kritikern zum Trotz den Reformprozess der katholischen Kirche in Deutschland, der Synodaler Weg genannt wird und sich mit der Sexualmoral, dem Zölibat und der Stellung der Frau befasst, an. „Es braucht Offenheit und Mut und die Bereitschaft zur Veränderung“, schreibt Marx. Dabei stehen sich progressive Bischöfe und katholische Laien und Konservative weitgehend unversöhnlich gegenüber. Immer wieder macht der Vatikan seinen Widerstand dagegen klar. Und auch bei anderen Themen entsteht der Eindruck: Es gibt ihn, der vorwärtsdrängt und ein paar Bremser. Im März 2020 zieht er sich vom Vorsitz der Bischofskonferenz zurück.
Im Mai 2021 ist Marx noch tiefer frustriert, sieht die Kirche „an einem toten Punkt“. Er bietet Papst Franziskus seinen Rücktritt an, weil er Verantwortung übernehmen will für die institutionellen Versäumnisse im Missbrauchsskandal. Es sei um „eine Gesamthaltung“ gegangen, sagt er. Darum, „dass wir die Opfer nicht im Blick hatten“. Das schiere Ausmaß des Skandals sei schockierend. „Keiner hatte damals die Idee, dass es so viele sind.“

Der Papst lehnt den Rücktritt ab, Marx akzeptiert die Entscheidung. Aber die Bühne wird kleiner, der achtköpfigen Kardinalsgruppe, die den Papst berät, gehört er seit März 2023 nicht mehr an: „In Rom hat er durch sein Ausscheiden aus dem Kardinalsrat kaum noch Möglichkeiten, aktiv die große Kirchenpolitik zu bestimmen. Marx steht also in der Abenddämmerung seiner aktiven bischöflichen Dienstzeit“, analysiert Kirchenrechtler Schüller.
Weitermachen mit positiver Grundsteinstellung
Er wolle „die Aufgaben, die ich gestellt bekomme, jeden Tag offen und mit positiver Grundsteinstellung anzunehmen“, sagt der Kardinal heute. „Solange ich Bischof bin ‐ das hängt vor allem von meiner Gesundheit ab –, will ich das tun. Kirchenrechtlich gibt es die Vorschrift, dass ich mit 75 Jahren meinen Rücktritt anbieten muss. Für mich ist aber wichtiger, ob ich mein Amt noch gut ausfüllen kann: geistig und körperlich fit, und wenn ich spüre, dass die Menschen meinen Dienst grundsätzlich annehmen.“
Zur Geburtstagsfeier lässt er es ordentlich krachen: Nach einem Gottesdienst in der Frauenkirche werden am Samstagabend auf dem Domvorplatz Gebirgsschützen der Kompanie „Gotzinger Trommel“ einen Ehrensalut abfeuern. Der Kardinal ist ihr Ehrenmitglied.