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Keine Umarmung, kein Küsschen, kein Handschlag: Wenn es an Berührungen fehlt

Panorama / Lesedauer: 7 min

Wegen Corona müssen viele Berührungen vermieden werden – Welche Folgen das haben kann, erläutert der Psychologe Martin Grunwald
Veröffentlicht:20.06.2020, 05:00

Von:
  • Schwäbische.de
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Keine Umarmung, kein Küsschen, kein Handschlag: Um jegliche Ansteckung zu vermeiden, müssen Freunde, Verwandte und Bekannte in diesen Tagen Abstand voneinander halten. Für Menschen, die ohnehin allein leben und wenig Körperkontakt haben, kann das hart sein. Der Leipziger Haptikforscher Martin Grunwald erklärt im Gespräch mit Angela Stoll , warum Berührungen so wichtig sind und welche Folgen ein Mangel an Körperkommunikation haben kann.

Herr Grunwald, wir sind derzeit angehalten, Distanz zu wahren. Berührungen sind tabu, wenn man vom Partner und der engsten Familie absieht. Was bedeutet das für alte Menschen, die ohnehin stark abgeschirmt werden?

Wir vergessen alle, dass der ältere Mensch eine andere Art der sozialen Beteiligung hat als ein junger Mensch. Der ältere Mensch hat generell weniger Sozialkontakte. Das heißt: Er hatte schon Gelegenheit, sich auf die neue soziale Interaktionssituation einzustellen. Und das haben die jungen nicht gehabt. Junge Leute sind von 100 Prozent sozialer und auch Körperkommunikation auf null gesetzt worden, und das im Millionenpack. Ohne Vorbereitung mussten sie sich jetzt mit diesen Kommunikationsbedingungen und der Isolation auseinandersetzen. Die jungen Leute haben es viel, viel schwieriger in dieser Situation als die älteren. Das ist sicherlich die Bevölkerungsgruppe, einschließlich Kinder, die jetzt unsere verstärkte Aufmerksamkeit braucht. Auch Verständnis, dass sie sich trotzdem heimlich trifft. Ein Schulleiter hat mir neulich erzählt: Vor dem Schulgelände trafen sich die jungen Leute. Und was haben sie gemacht? Sich umarmt.

Aber junge Leute sind eher in die Familie eingebettet, alte sind oft ganz allein. Jetzt reicht man ihnen nicht mal mehr die Hand.

Der alte Mensch hat in seinem Leben die vollumfänglichen Erfahrungen von Jugend, von Potenzialen, von Freunden gemacht. Ein alter Mensch kann auf gewisse Erfahrungen und Sachverhalte zurückgreifen. Für die jungen Leute dagegen stellt sich heute zum Teil die Frage: Habe ich eine Zukunft?

Was ist aber etwa mit dementen Menschen, die nicht mehr Zugriff auf ihre Erfahrungen haben? Ist es nicht fatal, wenn sie niemand mehr in den Arm nimmt?

Alle alten Menschen leiden unter Körperkontaktmangel. Ich bezweifle, dass Corona hier wirklich etwas komplizierter macht. Generell ist es ein Problem, dass alte Menschen außer von Ärzten und Pflegern kaum noch angefasst werden. In den idealen Großfamilienstrukturen, von denen wir alle träumen, gab es noch Enkelkinder, die Körperkontakt auch zu den sehr alten Mitgliedern der Familie aufrechterhalten haben. Aber ich glaube, dass bei dieser ganzen coronabedingten Problematik vor allem auch die Angehörigen leiden.

Inwiefern?

Weil man sich bei Besuchen wie ein Fremder verhalten muss. Ich habe das selbst mit meinen erwachsenen Töchtern erlebt. Bei den ersten Treffen haben wir uns nicht normal begrüßt, und das wurde von allen Beteiligten als etwas Furchtbares erlebt.

Kann es auch ein Ersatz sein, ein Tier zu streicheln?

Ja, Säugetiere lieben Säugetiere. Deswegen sind Säugetiere unsere Haustiere. Katzen und Hunde haben etwas davon, unseren Körper zu spüren, und wir haben etwas davon, wenn wir deren Körper spüren. Haustiere haben wahrscheinlich wirklich eine körperkommunikative Funktion für uns. Wir freuen uns einfach, mit etwas Lebendigem Körperkontakt zu haben. Ein Säugetier zu haben ist ein ganz klares Plus in dieser schwierigen Phase. Ältere, allein lebende Menschen profitieren ungemein von so einem kleinen Dackel oder einer Katze.

Was halten Sie von Robotertieren, die in Altenheimen eingesetzt werden?

Es gibt Roboterrobben mit Fell, die bei dementen Patienten wohl auch zur Beruhigung führen. Der gesunde alte Mensch durchschaut das Manöver aber.

Verstärken Masken das Gefühl der Einsamkeit?

Sicher. Das ist so ungewöhnlich, wenn man das ganze Gesicht nicht mehr sieht. Da fehlen wichtige Informationsgruppen für unser Gehirn. Wir haben viele Gesichtsmuskeln. Wir können sie ansteuern und dekodieren, also: Wir verstehen den anderen auch von seiner Mimik her. Durch die Maske ist der visuelle Kanal beeinträchtigt, und das Gemurmel dahinter ist ja unerträglich.

Macht es auch etwas aus, wenn man auf den Handschlag verzichten muss?

Ja, selbstverständlich. Wie man die Hand gibt, sagt alles aus. Das können Sie dynamisch und energetisch, aber auch ängstlich oder lasch machen. Ein Handschlag ist ein ganz einfaches und schnelles Kommunikationsmittel, das zu unserer Kultur gehört.

Bringen Ersatzgrüße mit Ellbogen oder Füßen etwas?

Natürlich. Im Prinzip können Sie nur feststellen, dass der andere Mensch wirklich existiert, indem Sie ihn anfassen. Alles andere kann Illusion sein. Das Ertasten ist ein Versicherungssinn: Mit der Tastsinn-Exploration können wir zweifelsfrei feststellen, dass es eine dreidimensionale Welt außerhalb unseres Körpers überhaupt gibt. Nur sehen oder nur hören führt nicht zu einem Beweis der Existenz einer äußeren Welt.

Was kann also passieren, wenn man längere Zeit darauf verzichten muss?

Das wissen wir nicht. Da müssen wir die Studien nach Corona abwarten. Mir fallen jeden Tag tausend neue Phänomene auf, die mit Corona assoziiert sind. Eltern beobachten jetzt zum Beispiel, dass Vor- und Grundschulkinder daheim eine starke Körperanhänglichkeit zeigen. Es kann sein, dass Kinder durch die Gesamtsituation verunsichert werden und jetzt besonders viel Körperkommunikation brauchen und körperlichen Zuspruch, damit der Stress reduziert wird.

Können Sie sich vorstellen, dass das Immunsystem geschwächt wird, wenn Berührungen fehlen?

Das könnte durchaus sein. Und das wäre eine Tragödie für Leute, die alleine leben und die sowieso schon körperkommunikativen Mangel haben. Berührungsmangel trägt zur Destabilisierung von Menschen bei. Wenn es jemandem psychisch nicht gut geht, wird auch das Immunsystem strapaziert.

Kann man sich beruhigen, indem man sich selbst anfasst?

Sich selber zu berühren führt nicht zu den Entspannungsreaktionen, die hervorgerufen werden, wenn uns ein anderes Lebewesen berührt. Unser Gehirn registriert nämlich, dass wir das sind, der sich anfasst. Damit das wirkt, muss das von jemand anderem ausgehen.

Warum fasst man sich dann so oft ins Gesicht?

Wir versuchen gerade, das durch weitere Studien noch besser zu verstehen. Offensichtlich versucht unser Gehirn, einen Zustand der Homöostase, also des Gleichgewichts, zu erzeugen. Impulse von außen stören immer wieder das Gleichgewicht unseres Gehirns, auch unserer Emotionen. Um dieses Gleichgewicht wiederherzustellen, werden Selbstberührungen ausgelöst. An einem 16-Stunden-Tag kann es 400- bis 800- mal dazu kommen. Ein einfaches Beispiel: Sie sind das erste Auto vor einer Ampel. Es wird grün und Sie bummeln. Hier in Sachsen wird das mit einem Hupkonzert quittiert nach dem Motto: „Nun fahr endlich, du Idiot!“ Weil dieses Hupen negative Emotionen erzeugt, berühren Sie erstmal Ihr Gesicht, bevor Sie losfahren. Sie müssen diesen Ärger erst mal verarbeiten. Das Gehirn inszeniert dazu diese Selbststimulation. Bewusst kann man das nicht herbeiführen, das haben wir auch untersucht.

Was kann man sonst tun, um sich in diesen Zeiten wieder ins Gleichgewicht zu bringen?

Ich plädiere ungemein für handwerkliches Tun: Also alles reparieren, was schief hängt, und malern kann man auch mal wieder. Das hat heilsame Effekte. Und spazieren gehen natürlich auch. Nach einer halben Stunde laufen ist man ein anderer Mensch. Also los geht’s!

ZUR PERSON

Professor Dr. Martin Grunwald (54) ist Psychologe am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung an der Universität Leipzig. 1996 gründete er dort das Haptik-Forschungslabor, das er seitdem leitet.

Haptik-Labor: Den menschlichen Tastsinn erforschen

Wie verändert sich die Hirnaktivität, wenn wir uns selbst berühren? Fragen wie diesen geht das Team um Martin Grunwald im Haptik-Forschungslabor der Uni Leipzig nach. Das Institut, das sich als interdisziplinäre Forschungseinrichtung versteht, ist in dieser Form europaweit einzigartig. Die Leipziger Wissenschaftler betreiben sowohl Grundlagen- als auch Industrieforschung, untersuchen darüber hinaus aber auch krankhafte Störungen der Tastsinneswahrnehmung. So entwarf Grunwald zum Beispiel einen hautengen Neoprenanzug für magersüchtige Patienten: Der Hirnforscher geht aufgrund diverser Testreihen davon aus, dass bei dieser Krankheit eine Störung des Tastsinnessystems vorliegt. Durch den Druck, den der Anzug auf den Körper ausübt, soll das Gehirn lernen, den Körper realer wahrzunehmen. Inzwischen bieten mehrere Kliniken magersüchtigen Patienten solche Anzüge an.