Auch Erwachsenen macht es Spaß, sich zu balgen. Ein Workshop verspricht den Teilnehmern mehr als das: Selbsterkenntnis. Wie soll das funktionieren? Ein Ortstermin.
Alles ist bereit für den großen Kampf. Der Boden des hellen Raums ist mit olivgrünen Matten gepolstert. Die ersten Ankömmlinge stehen unschlüssig herum und schauen gespannt zur Tür. Was sind das wohl für Leute, die an einem „Rauf-Workshop“ teilnehmen? Ein paar spinnerte Alt-Hippies? Oder eher fanatische Kampfsportler, die nicht ausgelastet sind? Nach und nach kommen friedlich dreinblickende Gestalten herein, die ziemlich normal wirken. Mehr Frauen als Männer sind darunter, die meisten im mittleren Alter. Dass sie sich bald miteinander auf den Matten wälzen werden, kann man sich kaum vorstellen.
Gerhard Schrabal , der den heutigen Rauf- und Tanz-Workshop in einem Münchener Tai-Chi-Studio zusammen mit der Tanzpädagogin Anja Martina Bürk-Deharde leitet, ist ein Altmeister in Sachen Raufen. Er gründete 2004 zusammen mit Gleichgesinnten die Rauf-Akademie München und bietet ein- bis zweimal pro Jahr entsprechende Workshops an. „Der wichtigste Aspekt ist, dass es Spaß macht“, verkündet Schrabal den Teilnehmern, die sich in einem großen Kreis auf dem Boden niedergelassen haben. „Heute geht es um Selbsterfahrung. Beim Raufen kann man sich nicht verstellen. Die Hülle fällt weg und der Kern wird sichtbar.“
Pädagogisch wertvoll
In der Kinder- und Jugendlichenarbeit hat sich das Rangeln und Raufen längst etabliert. Projekte wie „Raufen nach Regeln“ oder „Faires Raufen“ gelten bereits seit Jahren als pädagogisch wertvoll. Gemein ist den Konzepten, dass für die Trainingseinheiten klare Regeln und Rituale gelten, die den Kindern Sicherheit und ein Gespür für Grenzen vermitteln. „Es geht darum, mit sich selbst in Kontakt zu kommen und mit dem anderen wertschätzend umzugehen“, sagt der Pädagoge Claus Mayer aus Bodnegg. Er gibt freiberuflich Kurse zu erfahrungsorientiertem Lernen, unter anderem zu spielerischem Raufen, und arbeitet damit auch in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie Weissenau. Spielerisches Kämpfen diene psychosozialen Lernprozessen, betont er: „Diese Methode unterstützt Kinder und Jugendliche mit gestörtem Sozialverhalten in ihrer persönlichen Entwicklung. Sie lernen dadurch, besser auf ihren inneren Schiedsrichter zu achten.“
Gerade Jungen profitieren Mayers Erfahrung nach davon, wenn sie lernen, positiv mit Kraft und Aggression umzugehen. „Jungen haben eine starke Körperlichkeit. Sich kraftvoll miteinander zu messen, ist ihnen sehr wichtig“, berichtet der Pädagoge. Im Rahmen „spielerischer Lernpakete“ werde ihnen dazu ein sicherer Rahmen mit klaren Regeln geboten. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Partner nach jedem Kampf vor der Gruppe bekunden, ob die Auseinandersetzung aus ihrer Perspektive fair abgelaufen ist.
Gemeinsames Herumtollen im Schwimmbecken
Was bei den Kleinen inzwischen anerkannt ist, löst bei Erwachsenen nach wie vor Kopfschütteln aus. „Da gibt es riesige Vorurteile“, sagt der Kampfkunstlehrer Frank Taherkhani aus Göppingen, der ebenfalls Raufveranstaltungen für Erwachsene – darunter „Wasserraufen“, nämlich gemeinsames Herumtollen im Schwimmbecken – anbietet. „Viele Leute meinen, dass wir aggressives Verhalten trainieren und die Hemmschwelle sinkt, wenn man so etwas öfter macht. Genau das Gegenteil ist der Fall!“ Je häufiger man zum Spaß rauft, desto klarer kann man die Grenze zwischen Spiel und Realität unterscheiden, wie er erklärt.
Allerdings erlebt Taherkhani es immer wieder, dass gerade Männer Hemmungen haben zu raufen, weil sie fürchten auszurasten. „Sie halten sich für tickende Zeitbomben.“ Ihnen hält der Trainer entgegen: „Wie viele Tötungsdelikte nahmen wohl ihren Ausgang in einer Kissenschlacht?“ Beim Raufen verstauche sich höchstens mal jemand den Finger.
Wirklich? In Schrabals Workshop warten die Teilnehmer gespannt. Einige von ihnen waren noch nie beim Raufen. „Ich bin einfach neugierig“, sagt jemand. Andere, etwa S., ein hochgewachsener Mann mit Lockenmähne, haben schon positive Erfahrungen damit gemacht. „Ich möchte Menschen auch auf nonverbaler Ebene begegnen“, erzählt er. Überhaupt gibt S. gerne Auskunft, möchte aber anonym bleiben: „In meinem Dorf kommt so was nicht gut an“, sagt er mit gedämpfter Stimme. Dabei wird hier nicht gedealt, sondern nur ein bisschen gebalgt.
Bald fallen die Hemmungen
Und wann geht es damit endlich los? Immer langsam: Die Teilnehmer sollen sich erst mal warm tanzen, dann nähern sie sich einander vorsichtig an. Mal reiben immer zwei „wie ein Bär am Baum“ ihre Rücken aneinander, mal schieben sich die Paare – Stirn an Stirn – durch den Raum. Ein erster Höhepunkt ist das „Kätzchenspiel“. Dabei gehen alle in den Vierfüßlerstand und bilden einen Kreis. Wie junge Katzen suchen sie den Kontakt, schmiegen sich aneinander, drücken sich weg, fordern sich heraus. Bald fallen die Hemmungen, es wird miaut und gekichert, die Körper verkeilen sich: Aus drei wohlproportionierten Kreisen zu je sechs Teilnehmern bilden sich drei bunte Knäuel. Es wird gekeucht, gelacht, geprustet. Dann spricht Schrabal die erlösenden Worte: „Langsam werden die Kätzchen müde.“ Zur Belohnung dürfen sich die erschöpften Kämpfer einen großen „Kuschelhaufen“ in der Mitte des Raums bilden. Dort schmiegen sich alle aneinander, liegen quer über- und untereinander. Es wird ruhig, man hört lautes Atmen. Jemand stöhnt wohlig auf, einer kichert, irgendwo wird laut geseufzt, dann ist es ganz still.
Spielerisches Balgen ist für Schrabal wie Kuscheln eine Form von Körperkontakt, nach dem sich viele Menschen sehnen. „In Deutschland gibt man sich entweder förmlich die Hand oder man geht miteinander ins Bett“, schreibt er in seinem neu erschienenen Buch „Raufen für Erwachsene“. „Dazwischen existieren nicht viele Spielarten des Körperkontakts.“
Für den Menschen, ein „felltragendes Herdentier“, sei Berührung aber „ein Zeichen sozialer Zugehörigkeit und vermittelt ihm ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit“. Eben das verbindet das scheinbar alberne „Kätzchenraufen“ mit dem „Kuschelhaufen“: Die Kursteilnehmer sollen sich vom „Rudel“ angenommen fühlen.
Zu wenig Körperkontakt
Alles Quatsch? Nein, findet der Psychologe Martin Grunwald, Leiter des Haptik-Forschungslabors der Universität Leipzig. Solche Rauf- und Kuschelangebote seien gefragt, da sie „interessante und wichtige Körpererfahrungen“ böten. Wenn sie Menschen helfen, die zu wenig Körperkontakte haben, seien sie absolut sinnvoll. Zwischenmenschliche Berührungen und „adäquate Körpererfahrungen“, meint Grunwald, seien nämlich lebensnotwendig: „Sie stimulieren den gesamten Organismus auf komplexe Weise. Die Stimulation des Tastsinnessystems durch Körperkontakt regt sowohl psychische als auch körperliche Prozesse an, die entscheidend zu unserem Wohlbefinden beitragen. Ein Mangel an Körperkontakt über längere Zeit kann sogar unserer Gesundheit schaden.“
Der Nachmittag ist schon fortgeschritten, als sich die Workshop-Teilnehmer einen Raufpartner suchen. Blicke schweifen durch den Raum: Wer ist sympathisch, wer passt von der Größe? Rasch haben sich Zweier-Grüppchen gefunden. Die Paare gehen in die Knie und fassen sich an die Schultern. Manche schauen sich zunächst ratlos an, andere verkeilen sich schnell keuchend ineinander. Bald geht es drunter und drüber, kämpfende Körper schieben sich hin und her, rollen übereinander, bleiben irgendwo liegen und lachen. Es wird gekeucht, geschrien und viel gelacht, während die Luft immer wärmer und stickiger wird. Dann steht Partnerwechsel an – bis alle erschöpft und kampfesmüde sind.
Ein Stück Kindheit
Was die Teilnehmer zum Abschluss vorbringen, ist ganz unterschiedlich. Sichtlich beseelt ist zum Beispiel S., der Lockenkopf: Er erzählt mit leuchtenden Augen, wie er sich kämpfend ein Stück seiner Kindheit zurückerobert hat. Dagegen bekennt eine Frau ein paar Plätze weiter: „Ich bin eher ein Kuscheltyp, das Raufen ist nicht so meins.“ Wieder eine andere Teilnehmerin beklagt sich mit bebender Stimme darüber, dass „zu viel geredet“ statt gekämpft wurde – und mit einem Mal wird in der Runde so heftig diskutiert, wie vorher gerauft wurde. Hier und da bilden sich Grüppchen, in denen weiter debattiert und geredet wird. Jemand räumt die Reste des vegetarischen Büffets zusammen, andere verlassen eilig das Schlachtfeld. Das war’s. Der große Kampf ist vorbei.