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Wandern als Therapie: Raufgehen zum Runterkommen

Katschberg / Lesedauer: 8 min

Wirkt Wandern wirklich wie ein Antidepressivum? Ein Selbstversuch auf dem Nockbergetrail in Kärnten soll es zeigen.
Veröffentlicht:23.09.2023, 12:00

Von:
  • Schwäbische.de
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Die Ährige Teufelskralle ist ein feiner Snack. Ihre Blüten wachsen hier in den Nockbergen in Kärnten auf Hüfthöhe, man muss nur die Hand ausstrecken, während die Beine tapfer den steilen Anstieg hochmarschieren. Die Pflanze schmeckt ein wenig wie mild-würziger, grüner Spargel. Viel wichtiger jedoch ist ihre entspannende Wirkung, die Teil unseres persönlichen Glücksrezeptes ist. Beim Wandern lässt man angeblich die Sorgen im Tal, entfernt sich nicht nur geographisch vom Stress, sondern auch mental.

Es gibt Wissenschaftler, die Wandern als Antidepressivum anpreisen. Zu ihnen gehört Reinhold Fartacek, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und ehemals Ärztlicher Direktor des Uniklinikums Salzburg. Er untersuchte vor sieben Jahren die Auswirkungen des Wanderns auf suizidgefährdete Personen und stellte fest, wie die Teilnehmer ihr Selbstwertgefühl und ihre „erlebte Freude“ steigerten.

Der Studie zufolge nahm der Grad der Depression ab, die Ängstlichkeit reduzierte sich bedeutend. Wandern beugt demnach sogar einer Burnout-Erkrankung vor. Andere Untersuchungen wie von der Uni Innsbruck belegen: Mehrtägige Wandertouren erzeugen eine signifikante Verbesserung der psychischen Gesundheit, die auch Wochen später noch anhält.

Wandern statt Wunderpille?

Stimmt es wirklich, dass Wandern wie eine Wunderpille wirkt? Dieser Frage sind wir nachgegangen. Und so viel sei verraten: Runterkommen beim Raufgehen funktioniert tatsächlich. Aber anders als gedacht. Wer glaubt, man müsse nur die Wanderstiefel schnüren und ein paar Berge erklimmen, um entspannt und sorgenfrei zurück ins Tal zu kommen, der denkt nicht weit genug. Es gehört mehr dazu, wie der Selbstversuch zeigt, der uns in die Nockberge führt, wo sich ein Weitwanderweg mit acht Etappen durch eine eigentümliche, ja erstaunliche Bergwelt schlängelt.

Aus mehrerlei Gründen haben wir dieses Mittelgebirge im Süden Österreichs für unseren Trip gewählt. Man braucht nur Kondition, aber keinerlei Kletterkenntnisse. Zudem kann man einen Gepäcktransport buchen. Fleißige Helfer bringen die Tasche von Hütte zu Hütte, am Rücken klebt nur ein kleiner Rucksack mit Regenjacke und Reiseproviant. Mit uns dabei ist sogar ein Ranger, schließlich durchqueren wir einen Biosphärenpark, in dem die Natur einen hohen Stellenwert genießt. Wir laufen also stets dem Guide hinterher und müssen keine Karte rauskramen und uns Gedanken machen, ob es am nächsten Abzweig links oder rechts geht, ob wir diesen oder jenen Gipfel erklimmen. Kurzum: Wir brauchen uns um nichts kümmern und können uns voll auf unser Ding konzentrieren.

Wenn man Wandern als Antidepressivum testet, kann es sicher nicht schaden, nebenher eine natürliche Beruhigungspille zu kauen oder ein Naturgebräu aufzusetzen, das Entspannung verspricht. Und so sammeln wir, was der Berg hergibt. Läuft uns eine Teufelskralle über den Weg, werfen wir sie sofort ein. Wir naschen frische Fichtentriebe, schlagen uns durch die Heidelbeeren und pflücken Berg-Thymian und Irisches Moos, die wir am Abend auf der Hütte als Tee aufkochen. Da sind jetzt auch Pflanzen dabei, denen keine Anti-Stress-Wirkung zugeschrieben wird.

Yoga auf dem Gipfel

Aber für uns ist schon am ersten Tag klar: Die intensive Beschäftigung mit der Natur, die Frage, was essbar ist und welche mögliche Wirkung eintreten kann, sorgt für Ablenkung, Entspannung, Freude. Wenn wir wieder ein neues Pflänzchen finden, bei dem uns der Ranger die Heilsamkeit gegen Husten, Magenbeschwerden oder Hautreizungen bestätigt, lächeln wir wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal mit seinen Eltern im Wald ist, um Pilze zu sammeln und vom Vater für seinen tollen Fund gelobt wird.

Ebenfalls noch am ersten Abend beschließen wir, unser Versuchsspektrum auf Meditation am Berg zu erweitern. Vor ein paar Wochen bereits haben wir zuhause ausgelotet, welche Spielarten uns zusagen. Wir sind bei Yoga hängengeblieben. Auch die Erfahrungen mit Autogenem Training waren positiv. Dabei schließt man die Augen und lässt sich mantraartig von einer Stimme vorbeten, dass man jetzt „gaaaanz ruhig“ wird, sich die Arme „gaaaanz warm“ anfühlen und entflieht schlussendlich in Gedanken an einen kleinen Bergsee. Da passt es perfekt, dass wir auf einen solchen treffen. So liegen wir also für 20 Minuten am Laußnitzsee, während uns die Kopfhörerstimme Entspannungssätze vorsäuselt.

Eine weitere Entspannungsstation ist der knapp 2000 Meter hohe Priedröf. Wie die meisten der Nockberge ist er flach und grasig. Hier muss niemand um einen Ruheplatz unterm Kreuz kämpfen. Man hat eine riesige grüne Spielwiese für Entspannungsfiguren zur Verfügung und kann dabei auch noch den phantastischen Rundumblick genießen. Im Nordwesten thronen die mächtigen Tauerngipfel, die das ganze Jahr über Weiß tragen. Aus der anderen Richtung grüßen die Julischen Alpen, wo die kräftige italienisch-slowenische Sonne längst allen Schnee weggefressen hat. So bauen wir vormittags und nachmittags je eine Entspannungseinheit ein. Zuhause hatten wir bereits erste positive Effekte verspürt. Aber die Berge, das Grün, der Ausblick, die Ruhe wirken wie ein Katalysator.

Abschalten fällt im Alltag schwer

Das Abschalten fällt einfach leichter, wenn im Nebenzimmer keine Kinder toben und man nicht extra das Telefon ausstöpseln muss, nur um mal 20 Minuten Ruhe zu haben vor dem Chef oder einem Kollegen, die ungeduldig auf Arbeitsergebnisse warten. Dass beruflicher Stress krank machen kann, ist keine neue Erkenntnis. Dass auch die Freizeitgestaltung zur mentalen Belastung führt, ist ein Phänomen unserer heutigen modernen Gesellschaft, die auf extremem Medienkonsum, und ständiger Erreichbarkeit basiert. Mittlerweile hat sich dafür ein englischer Fachterminus etabliert: fear of missing out, oder kurz: fomo. Es handelt sich dabei um die Angst, etwas zu verpassen. Ständig muss etwas Neues passieren, alles muss schnell über die Bühne gehen. Dem Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt zufolge hat sich die Aufmerksamkeitsspanne auf maximal zwei Stunden reduziert. Kein Film, kein Theaterstück, kein Ausstellungsbesuch dürfe länger dauern. „Wird es länger, macht es die Menschen nervös, sie haben das Gefühl, Zeit zu verschwenden“, hat Reinhardt in einem Interview erklärt.

Zurück auf den Trail, wo wir uns mittlerweile nicht nur bücken, um an Pflanzen zu schnuppern. Ein Ameisenhaufen, den die Tierchen an einen stattlichen Lärchenstamm getürmt haben, beschäftigt uns mehr als zehn Minuten. Die Ameisen schleppen Fichtennadeln kreuz und quer über ihren Bau. Jede scheint zu wissen, was sie wo abliefern muss. Eine für alle, alle für eine. Beim Betrachten grübelt man darüber, warum es mit den Kollegen letzte Woche nicht geklappt hat. Mehr Zusammenhalt, konkrete Absprachen, klare Arbeitsaufträge ‐ viel Frust, Ärger und Stress blieben allen erspart.

Was machen die Ameisen besser?

Wir machen eine Ausnahme, ziehen das Handy aus dem Rucksack, das eigentlich nur für Notfälle gedacht war, denn die Wandertour ist auch als digitale Diät angelegt. Schnell ein Foto vom Ameisenhaufen. Zu Hause wollen wir es als Profilbild bei WhatsApp hinterlegen. Mal schauen, ob uns ein Kollege darauf anspricht und wir es schaffen, die Brücke vom Ameisenbild zum Arbeitsalltag zu schlagen.

Man sieht viele umgestürzte Baumstämme, Totholz, das voller Leben ist. Ohrwürmer wuseln unter dem Moos, Spinnen hangeln sich durch ihre Netze, Hundertfüßler treffen auf Tausendfüßler, Ameisen krabbeln über Maden, Würmer haben es sich in den Flechten gemütlich gemacht. Bis der Baumstamm überwuchert oder zerfallen ist, können 100 Jahre vergehen. 100 Jahre, in denen er Lebensraum für wahrscheinlich Hunderttausend Tiere ist. Wer in solch großen Dimensionen denkt, kommt vielleicht zu dem Schluss, wie klein und unbedeutend unsere Alltagsprobleme eigentlich sind, die uns immer wieder aufs Neue stressen.

Auf der letzten Etappe bewegen wir uns auf einem Panoramaweg oberhalb des Millstätter Sees, wo am späten Nachmittag unser Zieleinlauf sein wird. Bei einer Pause ziehen wir unsere Sammelbox raus, studieren die einsortierten Heilpflanzen und erinnern uns an die aufgebrühten Tees auf den Hütten und die Pflanzensnacks auf dem Weg. Die Gedanken schweifen noch einmal zu den Gipfeln und Bergseen, die für uns phantastische Meditationsorte waren. Noch nie haben wir uns so intensiv mit der Natur beschäftigt ‐ und mit uns selbst. Wir haben nicht nur ein Gebirge durchschritten, sondern auch einen Prozess durchlaufen. Alltagsprobleme sortiert, Stressfaktoren analysiert und Strategien entwickelt, wie wir dem täglichen Ärger in Zukunft begegnen wollen. All das ist bei einer längeren Auszeit in der Natur möglich. Deswegen kann Wandern Wunder wirken.

Nockberge-Trail:

8 Etappen mit 128 Kilometern/6500 Höhenmetern. Tagesetappen mit bis zu 22 Kilometern/1200 Höhenmetern. Gepäcktransport, Transfers, Wanderführer und Ranger sind buchbar. Übernachtungen in Schutzhütten/Almen oder in Hotels im Tal. www.nockberge.at

Die Reise wurde unterstützt von Kärnten Tourismus.


Nockbergetrail: 8 Etappen mit 128 Kilometern/6500 Höhenmetern. Tagesetappen mit bis zu 22 Kilometern/1200 Höhenmetern. Gepäcktransport, Transfers, Wanderführer und Ranger sind buchbar. Übernachtungen in Schutzhütten/Almen oder in Hotels im Tal. Informationen: www.nockberge.at