Höhenmeter

Vom Bodensee auf den Kilimandscharo

Lindau / Lesedauer: 8 min

Immer mehr Menschen wollen das Dach Afrikas erklimmen – Eine Lindauerin hat den harten Aufstieg gewagt
Veröffentlicht:27.07.2018, 15:26
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Eis in Afrika. Felsige Mondlandschaft. 5600 Höhenmeter. Mein Herz klopft, Schweiß steht auf meiner Stirn. Mein rechter Fuß landet auf Geröll, dann der linke. Rechts, links, rechts, links. Im Zeitlupentempo kämpfe ich mich hinauf. „Wie lange noch?“, frage ich meinen Guide Msafiri . Der kräftige Mann mit dem breiten Mund und dem roten Kopftuch lächelt. „40 Minuten.“ Noch 295 Höhenmeter fast senkrecht bergauf. Hoch über mir sehe ich die Eiskappe des Kilimandscharos, den Gipfel des höchsten Bergmassivs in Afrika.

Mehr als 30 000 Menschen besteigen jährlich den Kilimandscharo im Nordosten Tansanias. Das Dach Afrikas , mit 5895 Metern der höchste frei stehende Berg der Welt, einer der Seven Summits, der aus drei erloschenen Vulkanen besteht: Mawenzi, Shira und dem Kibo. Ich bin Lindauerin. Kenne das Allgäu, die Alpen, den Pfänder mit 1062 Höhenmetern, das Nebelhorn mit 2224 Höhenmetern. Doch die Höhe des Kilimandscharos fordert. Manchmal auch Todesopfer. Mit guter Kondition, aber ohne spezielles Training habe ich mich an den Aufstieg gemacht. Auf der Suche nach meinen körperlichen Grenzen und nach der Magie einer einzigartigen Landschaft.

Mit Koch und Kellner

Ich mache die Expedition gemeinsam mit dem Finnen Kim. Er ist Profi-Hockeyspieler und mit Hightech-Ausrüstung ausgestattet. „Let’s go!“, sagt er grinsend. Guide Msafiri leitet unser neunköpfiges Team: Guide Bakari, Koch Heaven, Kellner Michael und die fünf Träger Godfrey, Elias, Senkundo, Filbert und Hajji. Wir haben uns für die unbekanntere Lemosho Route entschieden, die Route für Abenteurer: schlafen in Zelten, tolle Aussichten, wenig Menschen. Wir werden eine Wegstrecke von 70 Kilometern zurücklegen, fünf Vegetationszonen durchqueren und bis auf 5895 Meter steigen.

2100 Meter, Lemosho Gate. Wir registrieren uns im Etappenbuch für die siebentägige Tour. Ein Mann notiert mit ernster Miene das Gewicht unserer Ausrüstung. Jeder Träger darf maximal 20 Kilo schleppen. Kim und ich tragen unsere Tagesrucksäcke mit dem Nötigsten. Zuerst geht es durch den dichten Regenwald. Schwarz-weiße Stummelaffen klettern auf den abgestorbenen, mit Moos bedeckten Bäumen herum. Unsere Expedition gleicht noch einem Spaziergang. „Pole, pole“ – „Langsam, langsam“, rät Msafiri auf Suaheli.

2650 Meter. Abends sitzen wir in einem Zelt, das unser Team aufgebaut hat. Der junge Kellner Michael serviert Paprikasüppchen, Rotbarschfilet auf mediterranem Gemüse mit Salzkartoffeln und Salat, zum Abschluss bringt er tropische Früchte. Und ich dachte, der Aufstieg zum Gipfel des Kilimandscharos wird ein Abenteuer!

Durchs Moorland wandern

Zweiter Tag. Nach dem Frühstück wandern wir durch das Moorland. Erikabäume bilden eine Allee im Nebelland. Sie ragen in die Höhe, ihre Fahnen nach unten, als wollten sie sich nicht zwischen Erde und Universum entscheiden. Es riecht nach wilden Gräsern. Endlich gewinnt die Sonne und wir optisch an Höhe. Als wir auf dem Bergpfad um die Kurve biegen, sehen wir ihn, den Kilimandscharo. Der riesige Vulkan ragt aus der afrikanischen Steppe empor. „Seit 24 Jahren steige ich zum Gipfel“, erzählt Msafiri im Gehen. „Ich war schon 327-mal auf dem Kilimandscharo.“ Dreihundertsiebenundzwanzigmal! Hunderte Menschen hat er auf den Gipfel geführt. Für seine Schützlinge ist der Aufstieg jeweils einmalig – once in a lifetime!

Um Guide zu werden, hat er als Träger begonnen, Englisch gelernt und eine Ausbildung gemacht. Seit 2001 stellt Msafiri als Lead Guide die Crew zusammen und ist für die Planung und den Aufstieg verantwortlich. „Für mich ist es einfach ein Job“, sagt Msafiri umgeben von der weiten kargen Landschaft. „Ich muss meine Familie versorgen. Ich habe drei Söhne und eine Tochter.“ Doch in unbeobachteten Momenten blickt er andächtig zum Kilimandscharo, schließt die Augen und holt tief Luft. Ich ahne: Es ist viel mehr als nur ein Job. Msafiri liebt diesen Berg. War er schon mit seinen Kindern oben? „Nein, die mögen lieber Safaris.“

Der Kopf dröhnt

3900 Meter. Gegen Ende des dritten Tages erreichen wir das Shira Camp 2.Wir haben heute 1000 Höhenmeter gemacht. Höhenmediziner empfehlen 300. Die Körperreaktion ist unkalkulierbar. Bis zu drei Viertel aller Bergsteiger sind von der Höhenkrankheit betroffen. Selbst manche Spitzenathleten schaffen es nicht auf den Kilimandscharo. Kim, der Finne, klagt über Kopfschmerzen. Auch mein Kopf dröhnt.

Nach einer eisigen Nacht verlassen wir das Camp um 9.30 Uhr und wandern weiter im kühlen Wind. Mount Meru, der zweithöchste Berg Afrikas, zeigt uns in der Ferne seinen Gipfel. Am Nachmittag des dritten Tages trifft unsere Lemosho Route auf die bekanntere Machame Route. Und plötzlich sind überall Menschen: Asiaten, die erstmals bergsteigen, Familien, Pärchen. Alt, jung, dünn, dick, trainiert, schlapp – alle wollen auf den Gipfel. Wir überholen eine junge Frau, die weinend auf einem Stein sitzt. Ihre Beine zittern. Ihr Gesicht ist rot vor Erschöpfung. Ich schätze sie auf 25 Jahre. Mein Alter. Der Grat zwischen Herausforderung und Kollaps ist schmal. Wir wandern weiter in eine Schlucht durch ein Meer aus Riesen-Senezien.

3950 Meter. Wir erreichen das Barranco Camp. Unberührte Natur, ungestörte Wildnis? Fehlanzeige. In einer bunten Zeltlandschaft tragen Guides und Köche Uniformen, gleiche Sporthose, gleiche Regenjacke, gleiche Thermomütze. Überall Träger in zerfetzten Turnschuhen und Jeans. Sie schleppen große Körbe auf ihren Köpfen, riesige Packsäcke, Rucksäcke, Tische, Stühle. Essenszelte werden aufgebaut. Eine Familie sitzt an einem Tisch und spielt Karten. In der Mitte eine Schüssel Popcorn. Cola für die Kinder, Tee für die Eltern. Gipfelkommerz.

30 000 Gipfelstürmer hinterlassen viel Müll

Der Tourismus ist für die Flora und Fauna des Kilimandscharos zur Belastung geworden. Die jährlich 30 000 Gipfelstürmer hinterlassen Müll: Energieriegel, Plastikflaschen und Toilettenpapier. Sie pflücken Wildblumen und gefährden den Artenschutz. Zigaretten haben schon Waldbrände ausgelöst. Wegen der steigenden Zahl der Wanderer wachsen die Camps. Immer mehr Plumpsklos bilden eine Herausforderung im steinigen Gebiet, indem niedrige Temperaturen die Kompostierung verlangsamen. Oft nutzen die Bergsteiger vorhandene Wege nicht. Erosionsrinnen bilden sich und zerstören den Boden. Ein weiteres Problem ist die Trinkwasserverschmutzung: Viele Bergsteiger halten nicht genügend Abstand zu den Wasserquellen.

Und dennoch: „Ohne die Besucher könnten wir einpacken“, sagt Msafiri und steckt eine zurückgelassene Packung eines Proteinriegels ein. „Ohne euch hätten meine Kinder keine Zukunft.“ Die Arbeitslosigkeit in Tansania liegt bei 13 Prozent. Das durchschnittliche Einkommen bei 790 Euro pro Monat. Der Kilimandscharo wird als Goldgrube Tansanias bezeichnet. Die Guides erhalten 18 Euro am Tag von ihrem Auftraggeber und zusätzlich etwa 20 bis 25 Euro Trinkgeld pro Tag: Ein kleines Vermögen in Afrika. Zusätzlich hinterlassen ihnen die Bergsteiger oft teures Equipment.

Ich gehe ein paar Schritte durch das Barranco Camp, sehe zwei Guides eine beinahe regungslose Person stützen – die junge Frau mit den zitternden Beinen. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Mund ist leicht geöffnet. Die Guides legen sie behutsam ins Zelt. Danach sehe ich sie nie wieder.

Die Luft wird dünn

3970 Meter, mittags am vierten Tag. Noch fast 2000 Meter bis zum Gipfel. „Jambo?“ – „Alles gut?“, fragt mich Msafiri und springt mit seinem schweren Rucksack einen Felsen hinauf. „Poa“ – „Cool“, antworte ich leicht angeschlagen. Msafiri freut sich: „Statt übermorgen besteigen wir schon morgen den Gipfel. Das Wetter wird umschlagen.“ Kim ist gerade mit kleinen Augen vom Plumpsklo zurückgekehrt: „Was ist mit der Akklimatisation?“, fragt er.

4673 Meter. Barafu Camp. In der Nacht brechen wir auf. Die Sterne leuchten intensiv. Wir bewältigen mit der Stirnlampe die Felsen. Ich trage drei Hosen und fünf Schichten Oberteile – wegen der Kälte. Dann wird der Himmel lila, schließlich gelb-rötlich über dem Wolkenmeer. Die Mawenzi Spitze sticht hervor. Ungefähr jetzt überschreiten wir die 5000-Meter-Grenze. Zum ersten Mal gebe ich meinen Tagesrucksack an die Guides ab. Kaum Luft zum Atmen. Mir ist schlecht, aber ich kann mich nicht übergeben. Was zur Hölle mache ich hier oben?

Wie lange noch?

5500 Meter. Der Sauerstoffgehalt der Luft ist nur noch halb so hoch wie auf Meereshöhe. Ich blicke zu Msafiri: „Wie lange noch?“ Er sieht mir in die Augen, sagt ruhig „40 Minuten.“ Noch 40 Minuten, die über den Erfolg unserer Expedition entscheiden. Msafiri setzt einen Fuß nach vorne, ich setze einen Fuß nach vorne. Dann sind plötzlich alle Gedanken weg. Wir schleichen den schmalen Weg hinauf. Links der mächtige Rebmann-Gletscher im tropischen Afrika, rechts der Kibo-Krater. Eine Mondlandschaft. Und dann – nach fünf Tagen, 3800 Höhenmetern und 50 Kilometern entdecke ich das Gipfelschild am Ende des Kraters.

5895 Meter. Ich habe es geschafft: der höchste Berg Afrikas! Ich falle in Msafiris Arme. Wie betrunken tanze ich auf dem Gipfel, strecke meine Stöcke zum blauen Himmel, bin voller Endorphine. Alle Anstrengungen sind wie weggeblasen. Höhenrausch. Und auf einmal macht alles Sinn. Der harte Weg zum Gipfel. Die kalten Nächte. Die Übelkeit, die Erschöpfung, die Wut. Ich stehe auf dem Dach Afrikas. Möchte mich für immer so fühlen, für immer hierbleiben.

Doch nach nicht einmal zehn Minuten auf dem Gipfel sagt Msafiri: „Wir müssen los.“ Als wir mit dem Abstieg beginnen, umschlingt Nebel den Kilimandscharo.