Daoismus
Mit japanischen Bergmönchen auf der spirituellen Reise zu sich selbst
Panorama / Lesedauer: 9 min

Schwäbische.de
"Wir denken zu viel und spüren zu wenig“, lautet die Botschaft, die mir der Bergmönch Takeharu Kato, genannt Tak, mit auf die Reise zu mir selbst mitgegeben hat. Er will zur Kraft des „kanjiru“ führen, zur Kraft des Fühlens. Nahe der Stadt Tsuruoka, vier Zugstunden und knapp fünfhundert Kilometer nördlich von Tokio entfernt, erheben sich die Hügel der Dewa Senzan, der heiligen drei Berge Haguro, Yudono und Gassan.
Sie symbolisieren Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Dort, in der Provinz Yamagata, leben die Yamabushi – „die sich in den Bergen niederlegen“. Die Mönche wandeln barfuß durch Flüsse. Sie meditieren unter Wasserfällen, verbringen die Nacht auf Gipfeln unter dem Sternenhimmel, verbinden sich mit der Natur und mit den Geistern der Ahnen. Sie feiern Zeremonien des rituellen Sterbens und der Wiedergeburt in den Bergen. Wer sie sind, was hinter ihren merkwürdigen Riten steckt, soll nur verstehen, wer es selbst erfährt. Darum bin ich hierhergekommen.
Motto: „Zurück zur Natur, zurück zu Dir“
Zwei Tage sollen meine Reisegefährten aus Deutschland und ich uns auf uns konzentrieren, schweigen, die Smartphones packen wir weg. „Zurück zur Natur, zurück zu dir“, so lautet das Heilsversprechen der Yamabushi, mit dem die Bergmönche immer mehr westliche Besucher mit einem Hang zum Spirituellen locken.
Die erste Lehre: Wer wiedergeboren werden möchte, muss sterben. Die Yamabushi Eriko, eine stille Vierzigjährige mit mildem Lächeln, hilft mir, mich anzukleiden: Sie hüllt mich in ein weißes Gewand, wie es in Japan üblicherweise den Verstorbenen für ihre letzte Reise vorbehalten ist. Eriko knotet Bänder um mich, ich steige in eine weiße Pluderhose, eine Art Wickelbluse. Um den Kopf bindet sie mir eine Art Schal mit zwei Schlaufen, die wie runde Eisbär-Öhrchen abstehen. Eriko reicht mir einen weißen Rucksack und einen hölzernen Wanderstab. Dann steigen wir in einen Bus, der uns von unserer Pilgerherberge in die Berge bringt.

Der Berg ist der Ort, an dem sich die Geister der Ahnen versammeln und für die Yamabushi heilig. Ihr Tempel ist die Natur. Nichts hinterfragen sollen wir. Keine Erklärungen erwarten, keine Antworten erhoffen, uns selbst spüren. Nur noch ein Wort brauchen wir: „Uketamo!“ Ich akzeptiere – mit offenem Herzen.
Es ist von nun an die Antwort auf jede Anweisung, die unser Meister Tak uns macht. Tak bläst in sein dröhnendes Muschelhorn, ein markerschütternder Ton erklingt. Es geht los. „Uketamo!“ Wir akzeptieren. Schweigend folgen wir verschlungenen Pfaden. Als leuchtend weiße Gestalten heben wir uns ab zwischen den dunklen Zedern, die den matschigen Weg säumen. Immer Tak hinterher, die kleinen Messingglöckchen an seinem Gürtel klimpern bei jedem Schritt und sollen Bären abschrecken.
Anhänger einer alten Naturreligion
Yamabushi sind Anhänger des Shugendo, einer etwa 1400 Jahre alten Naturreligion. Bis heute bedienen sich die Yamabushi an Lehren des Shintoismus und Praktiken des Buddhismus, mischen Elemente aus dem chinesischen Daoismus und dem Schamanismus hinzu, den Animismus: Sie verehren die Geister der Natur.
Die heutigen Yamabushi wie Tak und Eriko sind Asketen auf Zeit. Sie leben ein bürgerliches Leben. Tak wechselt von der Jack-Wolfskin-Jacke in seine Yamabushi-Kluft, ohne mit der Wimper zu zucken. Eriko arbeitet und lebt in Tokio, sie ist bei einem Kosmetikunternehmen angestellt und für den Vertrieb nach Europa zuständig. Es ist ein irdisches Leben. Doch immer wieder zieht es die beiden wochenweise in die Natur. Während des Trainings, wie die Riten genannt werden, schlafen die Pilger auf nacktem Boden, dürfen sich nicht waschen, nicht die Haare kämmen oder Zähne putzen.
Meister HoshinoDie Berge sind nicht da, um darin zu sterben. Sie sind da, um sie anzubeten.
Die Anzahl der Yamabushi ist kaum zu ermitteln, fast alle von ihnen führen ein geregeltes Leben, arbeiten, haben eine Familie. Und noch etwas hat sich mit den Jahren geändert: Immer mehr von ihnen sind weiblich, wie Eriko. Im 17. Jahrhundert gab es Yamabushi im ganzen Land. Heute haben sie Nachwuchssorgen. Auch darum haben sich viele der einst verschlossenen Orden für Frauen geöffnet. Einst waren die heiligen Berge einzig den Männern vorbehalten. Erst 1871 gestattete es die Regierung den „unreinen“ Frauen, sie zu besteigen. Heute machen sie mittlerweile in vielen Pilgerherbergen sogar die Mehrheit aus. Damit sind die Yamabushi aufgeschlossener als die konservative, patriarchisch geprägte japanische Gesellschaft.
Die Aussöhnung mit der Erde
Eriko, die uns während des Trainings begleitet, liebt Trekking, ausgiebige Touren von Gipfel zu Gipfel. Früher, sagt sie, ging es ihr nur darum, ein Ziel zu erreichen, etwas zu leisten, sich beim Bergsteigen etwas zu beweisen. Eriko war im Himalaya unterwegs, doch mit den Jahren verlor sie Freunde beim Klettern, sie starben bei tragischen Unfällen. Eriko machte sich auf Sinnsuche und traf Meister Hoshino, Yamabushi in 13. Generation. „Die Berge sind nicht da, um darin zu sterben“, sagte er zu ihr nur. „Sie sind da, um sie anzubeten.“
Wenn Eriko heute wandern geht, saugt sie jeden Eindruck in sich auf. „Ich nehme die Blätter wahr, das Rauschen der Bäume, die Steine unter meinen Füßen. Ich spüre überall eine göttliche Energie, eine Kraft.“ Für sie bedeutet eine Yamabushi zu sein, sich auszusöhnen mit der Umwelt. Genau deswegen sei der Weg der Yamabushi für Tak und sie bis heute so stark, angesichts der Zerstörung der Erde, des Klimawandels, des blinden Konsums und des Stresses des Informationszeitalters. Und so lege ich nach und nach das Gefühl ab, ein wenig albern auszusehen im weißen Gewand, mich lächerlich zu machen auf den Pfaden eines religiösen Kults, mit dem mich doch nichts verbindet.
Vom Anzugträger zum Touristen-Guide
Immer wieder beteuert Tak, er sei kein religiöser Mensch, nicht sonderlich spirituell oder esoterisch. Wenn er seine Geschichte des geläuterten Geschäftsmanns, der sein Leben um 180 Grad gedreht hat, erzählt, ist unklar, ob er sie ausschmückt. Weil er als gut bezahlter Mitarbeiter einer der ältesten und größten Werbeagenturen des Landes davon gelebt hatte, zu verkaufen. Vor gut zehn Jahren verließ er seinen Alltag als einer der ungezählten Anzugträger, die sich in den Metros von Tokio drängen. Gab seinen gut dotierten Job auf, kurz nachdem er seinen späteren Meister traf, den Yamabushi Hoshino. Er begegnete ihm bei einer Geschäftsreise.
Es war damals Taks Auftrag, ein Konzept zu entwickeln, um die strukturschwache Region in der Präfektur Yamagata zu stärken und mehr Besucher anzulocken. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht. Mittlerweile ist Tak selbst Meister und führt Touristen aus aller Welt, aus ganz Europa, den USA, aus allen Ecken Japans, in seinen Glauben ein.
Meditieren im eisigen Wasserfall
Unser Weg führt zu einem rauschenden Bach, wo wir Halt machen. Ein Wasserfall plätschert vor uns. „Hu, ho“, schreien wir, heben die Hände in den Himmel. Ich verbeuge mich zweimal, klatsche, laufe barfuß durch das eiskalte Wasser. Stelle mich unter den Wasserfall und murmele „MO RO MO RO NO“ Silben, von denen ich nicht weiß, was sie bedeuten. Das Wasser rauscht, schemenhaft sehe ich den Rest der Gruppe, Tak, meinen Meister auf Zeit, der kurz zuvor mit stoischer Ruhe unter der eiskalten Wasserwand stand. Bloß nicht zu früh aufgeben. Ob es zwanzig Sekunden waren. Mehr? Ich bin hellwach, das weiße Gewand klebt und zwei Tage später wird sich die Probe meiner mentalen Stärke mit einer sehr banalen Erkältung rächen.

Ein Yamabushi soll das Tier in sich erwecken, der Müdigkeit widerstehen, beten, beichten, Buße tun, die Hölle durchleben. Der Jetlag ist noch immer nicht überwunden. Das Mittagessen ist ausgefallen. Das Abendessen war karg. Wir aßen so rasch wie möglich, um den „hungry ghost“ zu verbannen: Reis und Misosuppe, lautes Schlürfen und Schmatzen.
Laufen, singen, beten
Was wir auf dem Weg zum Seelenheil immer bei uns haben: ein immer zerknitterteres Liedblatt mit Mantren. Jetzt sitzen wir auf Reisstrohmatten vor einem Altar in unserer Pilgerherberge. Die Müdigkeit lastet bleischwer, die Beine schmerzen vom ungewohnten Schneidersitz während der Gesangsmeditationen, die sich in die Ewigkeit dehnen. Räucherstäbchen und Kerzen brennen, Wachs tropft. Die Buchstaben verschwimmen, die Augenlider sind schwer. Irgendwann kommen die Töne wie von selbst, ein Gemurmel, perlenartig.
Dass keiner von uns Besuchern versteht, was genau wir singen, welchem Berggott wir gerade mit schiefen Tönen huldigen, scheint niemanden zu stören. Kurz durchatmen, dann klingt erneut das Horn. Noch einmal brechen wir auf, zur Wandermeditation, wir laufen durch die pechschwarze Nacht, von Tempel zu Schrein, stoppen, singen, beten.
2446 steinerne Stufen hinauf
Am nächsten Morgen, weit vor Sonnenaufgang, erwachen wir auf harten Matten, es regnet. Noch einmal ziehen wir los, nähern uns dem Berg Haguro. 2446 steinerne Steinstufen, gesäumt von Jahrhunderte alten Zedern, trennen uns von unserer Wiedergeburt. Auf seinem Gipfel befindet sich der mächtige Schrein Sanjin Gosaiden, der alle Gottheiten der Dewa Sanzan beherbergt. Der Berg Haguro ist so etwas wie die Wiege der Yamabushi-Glaubensgemeinschaft. Die Atmosphäre am frühen Morgen ist mystisch, es ist neblig, windig und kalt.
Wenn ich hier entlang gehe auf den Stufen des Bergs, fühlt es sich mit jedem Schritt so an, als würde ich die Gedanken, die Fragen abstreifen, was es nun eigentlich bedeutet, ein Yamabushi zu sein. „Uketamo“ bedeutet: mit offenem Herzen akzeptieren. Das ist die Lehre, die bleibt. Sich freimachen von Erwartungen, manches hinzunehmen, ohne es zu hinterfragen. Ich akzeptiere.