Gedenktag
Braucht es einen Gedenktag für die Coronatoten? Sagen Sie uns Ihre Meinung
Panorama / Lesedauer: 10 min

Die Aussicht auf einen beseelten Ruhestand nach Jahrzehnten der Arbeit hätte kaum heller strahlen können als bei dem Paar aus Oberschwaben. Der Verkaufsvertrag für ihr Haus war schon aufgesetzt und ein neues Heim im Süden gefunden, mit Sonnenterrasse und Blick aufs Meer. Der geliebte Hund sollte natürlich mit in das neue Leben. „Dann aber hat sich der Mann mit Corona infiziert und später seine Frau angesteckt“, berichtet Pfarrerin Franziska Müller von der Klinikseelsorge Wangen.
Die Krankheit schlug brutal zu, bei beiden. Die, getrennt von einander und isoliert von ihrer Familie, auf der Intensivstation an die Grenzen ihres Daseins gerieten. Und darüber hinaus. „Die beiden Kinder mussten ihrer Mutter schließlich sagen, dass ihr Mann gestorben ist.“ Die Frau, Mitte 60, saß dabei im Rollstuhl, für den Moment körperlich und seelisch gebrochen, die sicher geglaubte Zukunft durch ein Virus zerstört.
Seelsorger, Pfleger und Ärzte kennen viele Schicksale, die durch eine Covid-Erkrankung eine verheerende Richtung genommen haben. Die Bevölkerung erfährt von dieser Tragik eher selten. Stattdessen wird sie jeden Morgen mit Statistiken gefüttert, als handele es sich um Börsenkurse, die mal runter, aber meistens hoch gehen. Dann ist die Rede von Infektionszahlen und Mortalitätsraten, von R-Werten und Inzidenz, von Wirtschaftsbeihilfen und Übersterblichkeit. Die Toten sind zu Ziffern und Zahlen geworden.
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Worüber die Statistiken nichts aussagen, sind die Trauernden in Deutschland und auf der ganzen Welt. Die Menschen, die ihre Mutter, ihren Vater oder eben den Ehemann in der Corona-Pandemie verloren haben. Die Abschied nehmen mussten, ohne sich am Krankenbett verabschieden zu können. Die damit fertig werden müssen, dass sie ihren Liebsten im Todeskampf nicht beistehen konnten.
Kulturwissenschaftlerin Aleida AssmannWir haben den Menschen, die schwer leidend gestorben sind, das vorenthalten, was Sterbende brauchen – die Nähe zu den Angehörigen.
Für die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann liegt gerade in der Nicht-Begleitung der Sterbenden „der Kern des Schmerzes“. „Wir haben den Menschen, die schwer leidend gestorben sind, das vorenthalten, was Sterbende brauchen – die Nähe zu den Angehörigen. Das wurde auch den Familienmitgliedern vorenthalten, die die Sterbenden nicht begleiten konnten“, sagt die emeritierte Professorin von der Universität Konstanz .
Umso wichtiger sei „ein Zeichen der Solidarisierung, damit sich die Menschen nicht in dieser Situation alleingelassen fühlen“. Doch das Bewusstsein, dass nicht nur die Folgen des Lockdowns beklagenswert sind, sondern auch der Tod Zehntausender Menschen, scheint hierzulande nur langsam zu wachsen. „Man hört im Zusammenhang mit Corona nur Zahlen und Statistiken“, bestätigt Assmann. „Das ist die Sprache der Naturwissenschaft. Der Mensch ist darin nur ein Fall.“
Andere Länder wie Italien oder auch die USA sind in ihrer Trauerarbeit einen Schritt weiter. In Rom hat das italienische Parlament den 18. März zum nationalen Gedenktag für die Corona-Opfer bestimmt. An diesem Tag verließ vor einem Jahr ein Militärkonvoi mit Särgen Bergamo – dadurch erlangte die norditalienische Stadt traurige Berühmtheit in der Pandemie.
In den USA, wo das Corona-Virus weltweit mit am heftigsten wütet, gedachten US-Präsident Joe Biden und seine Vizepräsidentin Kamala Harris vor vier Wochen mit einer Schweigeminute und Fahnen auf halbmast der mehr als einer halben Million Corona-Toten. In Deutschland soll nun in knapp einem Monat an die Opfer der Pandemie erinnert werden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier plant für den 18. April eine Gedenkfeier in Berlin mit den wichtigsten Repräsentanten des Staates und mit Hinterbliebenen. In Bayern wurde schon am Dienstag mit Trauerakt und Schweigeminute der Corona-Toten gedacht.
Aber sind das die „Zeichen“, die von den Angehörigen auch als Trost empfunden werden? Leben sie tatsächlich leichter mit dem Schmerz über ihren Verlust, wenn andere öffentlich daran teilhaben? Oder klingt der Satz „geteiltes Leid ist halbes Leid“ vielleicht sogar wie Hohn in den Ohren der Betroffenen. Prälat Karl Jüsten , Leiter des Katholischen Büros in Berlin, legt sich nicht fest in dieser Frage.
Prälat Karl JüstenDie Corona-Pandemie hat das Land mehr erschüttert als vieles andere zuvor. Diese Zeit wird sich in unser kollektives Gedächtnis einprägen.
„Ob ein nationaler Trauerakt das auffangen kann, was im nahen Umfeld der Menschen geschehen ist, wird sich zeigen“, sagt er. Als Priester und Seelsorger habe er die Erfahrung gemacht, dass die Trauer um einen Verstorbenen etwas sehr Persönliches und „kein kollektives Ereignis“ ist. Gleichwohl plädiert auch der Prälat dafür, die Erinnerung an die Ereignisse der vergangenen zwölf Monate auf nationaler Ebene wachzuhalten. „Die Corona-Pandemie hat das Land mehr erschüttert als vieles andere zuvor. Diese Zeit wird sich in unser kollektives Gedächtnis einprägen“, sagt Jüsten.
Anders als andere Ereignisse, die sich wie Fukushima oder der 11. September in die Erinnerung der Nation eingebrannt haben, lässt sich die Corona-Pandemie aber nicht auf einen bestimmten Tag datieren mit Tausenden von Toten. Sie ist vielmehr eine schleichende Katastrophe – und das macht es wohl leichter, eine emotionale Distanz zu wahren. Selbst im Januar, als an manchen Tagen mehr als 900 Menschen an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung starben, wurde diese Zahl vor allem im Hinblick auf eine potenzielle Überforderung des Gesundheitssystems bewertet.
Karl Jüsten900 Tote am Tag, das sind drei Flugzeugabstürze.
„900 Tote am Tag, das sind drei Flugzeugabstürze. Das klingt ganz anders als die reine Zahl“, sagt Assmann. „Wenn eine bildliche Vorstellung entsteht, ändert sich die Wahrnehmung vollkommen. Die Frage ist, ob wir unseren Emotionen erlauben, da mitzuspielen, oder ob wir sie in Schach halten.“
Die Corona-Pandemie hat darüber hinaus einen selektiven Effekt: Sie trennt die Gesellschaft in unterschiedliche Gruppen der Betroffenheit: Menschen, die Todesopfer zu beklagen haben, andere, deren wirtschaftliche Existenz gefährdet ist, wieder andere, die an ihrer Einsamkeit verzweifeln – und diejenigen, die so tun, als gäbe es das Virus nicht.
Die Kulturwissenschaftlerin Assmann sieht darin eine Gefahr für die „Solidarität innerhalb der Nation“, weil zwei verschiedene Gesellschaften entstünden – „die davon betroffen sind oder eben nicht“. Umso wichtiger sei es, den Stimmen der Betroffenen Gehör zu verschaffen. „Trauerrituale sind auch eine Möglichkeit, um den Schmerz der Betroffenen in die Reichweite der anderen zu rücken“, so Assmann. „Wenn es für Trauer Zeichen und Symbole gibt, wird das Leugnen erschwert.“
Tausende Nägel
Corona und die Folgen im öffentlichen Raum erlebbar zu machen, fällt bei Lockdown und Abstandsregeln allerdings schwer, entsprechende Projekt mehren sich jedoch. So hat das Universitätsklinikum Tübingen kürzlich ein Fotoprojekt präsentiert, das die tägliche Arbeit von Ärzten, Pflegern und Patienten auf der Intensivstation eindrucksvoll abbildet. Und in den sozialen Medien wird unter dem Hashtag #coronatotesichtbarmachen dafür geworben, jeden Sonntag an prominenten Stellen Kerzen für die Verstorbenen aufzustellen.
In Stuttgart und Reutlingen etwa wird dem Ruf gefolgt. Viel Aufmerksamkeit erhielt Marios Pergialis, Kunsttherapeut und Dekanatsjugendreferent im Ostalbkreis, für sein Projekt in Schwäbisch Gmünd. Im Heilig-Kreuz-Münster stellte der 30-Jährige Ende vergangenen Jahres Tausende Nägel auf, die er zuvor eigenhändig und schweißtreibend in Holz geschlagen hatte – für jeden Coronatoten einen Nagel.
„Über Corona wird von allen Seiten viel geredet. Was da wirklich passiert, können wir aber aber nur schwer fassen“, sagt Pergialis. „Deshalb möchte ich die Sinneskanäle ansprechen“ – was im Heilig-Kreuz-Münster gelang, abzulesen an den verblüfften Reaktionen der Besucher schon über die schiere Menge an Nägeln. In den sozialen Medien gab es aber auch negative Resonanz, zumeist begründet mit Kommentaren wie: „Was ist denn mit Krebskranken, was mit Unfallopfern?“ Corona werde durch eine solche Aktion nur überhöht.
„Die Kritik ist unbegründet“, entgegnet Pergialis, „weil sie impliziert, dass man sich nur auf eine Sache fokussieren kann. Es gibt aber viele hilfsbedürftige Gruppen, nach denen wir schauen müssen. Und das wird auch getan. Es bestehen bereits zahlreiche Initiativen, auch für Krebskranke und für viele andere.“ Aber eben noch kaum für die Opfer der Pandemie. Deshalb bereitet der Dekanatsreferent schon die nächste Aktion vor. Diesmal in der Stuttgarter St.Maria-Kirche, wo am Gründonnerstag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang für jeden Coronatoten ein Nagel in eine große Metallschale fallen soll. Rund 75 000 Nägel werden dann hinabstürzen, rund 75 000-mal der metallische Klang durch das Gotteshaus hallen.
Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre hierzulande völlig klar gewesen, mit welchen Ritualen der Corona-Opfer gedacht wird: mit religiösen. Und es wäre außer Frage gestanden, wer an erster Stelle die Begleitung der Trauernden übernimmt: die Kirchen. Doch mit der Zahl der Kirchenaustritte schwindet die Bedeutung der Seelsorger am Krankenbett, und selbst am Grab werden Priester zunehmend durch nichtreligiöse Trauerredner ersetzt.
Was Corona für die Kirchen bedeutet
Der Glaube hat im Alltag der Menschen an Bedeutung verloren – und daran habe sich auch in dem vergangenen Krisenmonaten nichts geändert, bestätigt Prälat Jüsten. „Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass die Menschen in dieser Krise wieder eher zu Gott oder zur Religion finden.“ Dennoch wolle die Kirche auch für diejenigen da sein, die trotz erheblicher Zweifel am Glauben einen Ort der Stille, des Gedenkens oder auch des vertraulichen Gesprächs schätzen. „Unsere Kirchen sind immer offen“, so der Theologe.
Genauso wie christliche Seelsorger in diesen Tagen und Monaten den Menschen in ihrer Not beistehen. Darunter Pfarrerin Müller aus Wangen, die sich von einer kollektiven Anteilnahme für die Opfer der Pandemie, und sei es durch einen Gedenktag, eine heilsame Wirkung verspricht. „Es würde gut tun, diese Erlebnisse rauszuholen aus der Isolation der Einzelfamilien hin zu einer gesellschaftlichen Erfahrung.“ Um so möglicherweise die Spaltung zu überwinden, zwischen jenen, die sich durch die Maßnahmen nur eingeschränkt fühlen, und denen auf der anderen, der dunklen Seite. „Es gibt Menschen, die waren oder sind von Corona besonders betroffen. Und die nehmen wir dadurch wieder in unsere Mitte.“ Darunter zerbrechliche Menschen, verletzt an Körper und Seele, die ein neues Leben brauchen.
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