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Im letzten Nachtzug durch die Nacht

Panorama / Lesedauer: 8 min

Seit 140 Jahren gibt es hierzulande Liege- und Schlafwagen – Nun zieht sich die Deutsche Bahn aus dem Geschäft zurück
Veröffentlicht:30.11.2016, 20:45

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Der gleichmäßige Takt der Schienen wiegt den Fahrgast in den Schlaf. Sanft neigt sich der Nachtzug in die Kurve und schaukelt ein wenig. Der Rotwein, den die Servicemitarbeiterin im Schlafwagen des CityNight-Line-Zuges 470 kurz hinter Offenburg serviert hat, zeigt Wirkung. Erst am nächsten Morgen erinnert eine Lautsprecherdurchsage die Reisenden, dass sie im Zug und nicht im Hotel schlafen: „Willkommen in Bitterfeld“. Bis Berlin braucht der Zug noch eine Stunde: Zeit genug für die Morgentoilette und ein Frühstück.

Seit 140 Jahren bringen die deutschen Bahnen ihre Kunden in Liege- und Schlafwagen ans Ziel. Doch nächste Woche endet diese Tradition, aus Kostengründen. Die Deutsche Bahn zieht sich aus dem Geschäft mit Schlaf- und Liegewagen komplett zurück und stellt ihre CityNight-Line (CNL) ein. Statt liegend, schlafend und träumend kann der Reisende nun in neon-erleuchteten Nachtzügen nur noch halbwach-sitzend an sein Ziel kommen. Zwar übernehmen die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) einen Teil des Angebots: Auf dem deutschen Schienennetz wird es aber künftig noch acht Verbindungen geben, auf denen Nachtreisezüge mit Schlafwagen unterwegs sind. Unterm Strich schrumpft das Angebot auf etwa die Hälfte.

30 Millionen Euro Verluste

Am Service kann es nicht gelegen haben, dass die Deutsche Bahn bei 90Millionen Jahresumsatz im klassischen Nachtzugverkehr 30 Millionen Euro Verluste schrieb. Denn Julia Krone , seit 30 Jahren im Dienst auf der Strecke von Zürich über Freiburg, Frankfurt und Leipzig nach Berlin, empfängt ihre in Offenburg einsteigenden Gäste im CNL 470 wie an der Rezeption eines Hotels. Nach der Fahrkartenkontrolle fragt sie nach Wünschen wie Weckruf oder Getränken: „Wir kommen um 7.23Uhr in Berlin an, dann sollten Sie um 6.15 Uhr aufstehen“, rät sie. Krone erklärt die Nasszelle mit Dusche und WC, baut einen Tisch auf, kredenzt den schon erwähnten Rotwein, einen Merlot. Und nach einer Stunde Fahrt baut die 54-Jährige das Abteil um: Mit einem schwungvollen Handgriff wird aus der Sitzbank ein Bett. „Gute Nacht!“ Während die Menschen in den Abteilen schlummern, müssen die Servicemitarbeiter schon Kaffee kochen, Teewasser bereitstellen und die Tabletts bestücken. Der Fahrgast kann erwarten, dass der Schlafwagenschaffner rechtzeitig vor der Ankunft an die Tür klopft.

Arbeitslos nach Fahrplanwechsel

Doch für Julia Krone ist in wenigen Tagen das Ende ihrer Dienstfahrt erreicht: „Mehr als die Hälfte der Kollegen ist schon weg, die haben einen neuen Job gefunden“, berichtet die resolute Frau, die auch als Jugendherbergs-Mutter eine gute Figur abgeben würde, ihren wirklichen Namen aber nicht in der Zeitung lesen möchte, „einen echten Dienstplan gibt es nicht mehr.“ Ab dem Fahrplanwechsel am 11.Dezember sei sie voraussichtlich arbeitslos. Ein Angebot ihres bisherigen Arbeitgebers habe sie nicht erhalten: „Ich würde ja gerne weiterarbeiten“, sagt sie, „auch Umschulungen mache ich mit.“

Mitarbeiter wie Julia Krone haben mit persönlichem Einsatz in den vergangenen Jahren im Nachtzug-Netz gerettet, was noch zu retten war. Denn die Deutsche Bahn vernachlässigt nicht nur den Unterhalt von Schienen, Weichen, Bahnhöfen, Aufzügen. Sie fährt systematisch auf Verschleiß und verärgert damit tagtäglich Millionen Kunden. An den betagten Wagen der Nachtzugflotte reparierte der Konzern nur noch das Nötigste. An durchgelegene Matratzen musste sich der Fahrgast gewöhnen. Hinzu kam: Die Nachtzüge verkehren seit 2014 ohne Speisewagen. Wer beispielsweise nach einem langen Arbeitstag in Berlin gegen 22Uhr in den Zug stieg, musste sein spätes Vesper selbst mitbringen.

Verschärfend war der Kampf mit Airlines und Bussen: Besonders frühe und späte Flugverbindungen machen der Bahn Konkurrenz. Und seit Fernbusse für preissensible Fahrgäste mit viel Zeit, vor allem Jugendliche und Rentner, eine Alternative darstellen, fehlte auch diese Gruppe in den Nachtzügen.

Vor zehn Jahren waren die CNL-Züge auf 18 Strecken unterwegs, zum Schluss waren noch Verbindungen etwa von Amsterdam nach München und Innsbruck, von Hamburg und von Berlin nach Zürich oder von Zürich über Frankfurt nach Prag im Programm. Die drei verlustreichsten Strecken, darunter von Hamburg und Berlin nach Paris, waren schon 2014 gestrichen worden.

Für Nachtreisezüge gibt es aus Sicht des Fahrgastverbands „Pro Bahn“ noch immer einen Bedarf. Das gelte vor allem für lange Strecken mit einer Fahrzeit von mehr als acht Stunden, sagt Pro-Bahn-Sprecher Stefan Barkleit. „Solche Distanzen lassen sich auch im Hochgeschwindigkeitsverkehr tagsüber nicht sinnvoll abbilden.“ Nicht nur für Urlauber, sondern auch für Geschäftsleute sei es durchaus eine Alternative zum Flug, etwa von Hamburg nach Zürich im Schlaf- oder Liegewagen zu reisen. Nach einer Nachtfahrt im Zug könne man am nächsten Morgen ausgeschlafen am Zielort einen Termin wahrnehmen, stellt der Bahnexperte fest.

Kein Wiedersehen

Nicht nur ausgeschlafen, auch rasiert und frisch gewaschen kommt der Fahrgast beispielsweise in Berlin an. Vorher hat Servicemitarbeiterin Julia Krone im CNL 470 ein Frühstück serviert, das es an Bord der Airlines schon lange nicht mehr gibt. Orangensaft, Brötchen, Kaffee: „Guten Appetit!“ Pünktlich um 7.23 Uhr öffnen sich die Türen des Zuges im Berliner Hauptbahnhof: „Auf Wiedersehen“, sagt Krone. Sie weiß genau: Es wird kein Wiedersehen geben, nicht in diesem Zug. Denn ab dem 11. Dezember werden ihre österreichischen Kollegen die Strecke übernehmen. Dann heißt es „Grüß Gott“ und „Pfiat di“.

Die ÖBB-Nachtzüge sollen mit dem neuen Markennamen „Nightjet“ unterwegs sein. Es gibt künftig acht Verbindungen (hin und zurück), drei ab Hamburg, davon eine über Berlin, zwei ab Düsseldorf und drei ab München nach Italien. Auf vier der acht Linien kann man Autos und Motorräder mitnehmen.

Bis 2020 wollen die ÖBB mit dem erweiterten Nightjet-Angebot 1,8Millionen zusätzliche Fahrgäste befördern und damit in den nächsten drei Jahren rund fünf Millionen Fahrgäste an Bord begrüßen. Derzeit sind jährlich rund eine Million Fahrgäste in den ÖBB-Nachtreisezügen unterwegs.

Warum aber können die Österreicher ihre Nachtzüge mit einem vergleichsweise modernen Fuhrpark profitabel aufs Gleis schicken? Anders als die Deutschen machen sie mit ihren Nachtreisezügen seit Jahren so gute Geschäfte, dass sie jetzt sogar den Ausbau vorantreiben – mit zusätzlichen, aufgemöbelten oder ganz neu gestalteten Schlaf- und Liegewagen. Während die Deutsche Bahn nur ein Prozent ihres Umsatzes mit dem Nachtzug-Netz erwirtschaftete, verzeichnet die ÖBB-Bilanz 17Prozent aus diesem Segment. „Synergie-Effekte“ begründet Konzernsprecher Michael Brunner und erklärt: „Mit dem erweiterten Nightjet-Angebot ergeben sich für die ÖBB erhebliche Synergien zum bestehenden Nachtreisezug-Netz. So können die neuen Nightjets von Düsseldorf oder Hamburg nach Innsbruck bis Nürnberg gemeinsam mit den bestehenden ÖBB-Nachtreisezügen nach Wien geführt werden.“ Auch die neuen ÖBB-Nightjet-Verbindungen von München nach Venedig, Rom und Mailand können in Salzburg oder Villach mit den bestehenden ÖBB-Nachtzügen ab Wien vereinigt werden. Im Klartext: Zwei Züge brauchen nur noch eine Lokomotive.

Hinzu kommt: Die Bewirtschaftung der Züge erfolgt aus einer Hand durch einen international erfahrenen Caterer, damit werden nach Brauns Angaben „Doppelgleisigkeiten vermieden und Kosten gesenkt.“ Freundlich umgarnt ÖBB-Vorstandschef Andreas Matthä die deutschen Bahnkunden: „Wir wollen ein Stück österreichische Gastfreundschaft nach Deutschland bringen.“ Dazu gehören renovierte Abteile, ein Gläschen Prosecco zur Begrüßung, ein Frühstück à la carte und ein Familienabteil für zwei Erwachsene und bis zu vier Kindern. Es gibt Deluxe-Abteile mit eigener Dusche und WC, Economy-Abteile mit Waschgelegenheit, die spartanischen Liegewagen und Ruhesessel. Wer nicht liegen, sondern lümmeln will: In den ÖBB-Nachtzügen gibt es auch Wagen mit Sitzen.

Schlechtere Bezahlung

Können oder wollen die Deutschen nicht leisten, was die Österreicher anbieten? Zurück zum Gespräch im deutschen Nachtzug CNL 470, zurück zu Servicemitarbeiterin Julia Krone: „Das, was die Österreicher bringen, könnten wir ja auch bringen, aber die ÖBB setzen ihre Mitarbeiter ab Wien ein.“ Ein Umzug von Berlin in die österreichische Hauptstadt komme für sie aus persönlichen Gründen nicht in Betracht. Auch sei die Bezahlung schlechter.

Was gibt es außerdem nicht mehr? Ost-West-Verbindungen wie von Warschau nach Köln oder von Dresden nach Basel werden komplett und ersatzlos entfallen: Damit stirbt ein Stückchen des europäischen Gedankens, stellt das Bündnis „Bahn für alle“ fest. Ebenso sieht Alexander Kirchner von der Gewerkschaft EVG einen Markt für den klassischen Nachtzug wie auch für den Autoreisezug: „Um diese aber wirtschaftlich betreiben zu können, müssen die europäischen Eisenbahnen in dieser Frage viel stärker zusammenarbeiten“.

Ein entsprechendes Engagement suche man vergeblich. Die Folge sei ein Verlust von Arbeitsplätzen in Deutschland.

Ab Sonntag kommender Woche werden die Österreicher beweisen, ob sie ihre Versprechen halten. Ein erster Nachteil aus Perspektive des Langschläfers ergibt sich aus dem Fahrplan: Statt um 7.23 Uhr kommt der künftig rollende EN 470 schon um 6.06 Uhr in Berlin an – zu früh, um direkt und ohne Pause in den ersten Termin in der Hauptstadt starten zu können: „Wir sind halt Frühaufsteher“, sagt ein ÖBB-Mann. Der wahre Grund aber ist ein wirtschaftlicher: EN 470 fährt nach Hamburg weiter. „Synergieeffekte“, ergänzt der Österreicher, „darum können wir das leisten, was sich die Deutschen nicht mehr leisten.“