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Expedition ins Eis

Eisige Reise in die Antarktis

Ushuaia / Lesedauer: 10 min

Ob vor 100 Jahren oder heute: Reisen durch die Drake Passage ins Südpolarmeer und die Antarktis sind ein ganz besonderes Abenteuer.
Veröffentlicht:21.01.2023, 10:00

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„Es wird Ihr ,Once-in-a-lifetime-trip‘ werden, die Reise Ihres Lebens.“ Arne Karstens, der zuständige Mann bei der Reederei Hurtigruten Expeditions, versteht es aufs Beste, die Vorfreude und das Prickeln noch zu steigern. „Man kommt anders zurück, als man aufgebrochen ist. Sie werden schon sehen.“

In die Antarktis soll es gehen, ans andere Ende der Welt, in diese kalte, unwirtliche, menschenfeindliche und doch so einzigartige und faszinierende Eiswüste, die erst im Jahr 1820 entdeckt worden ist. Man hat Bilder aus Fernsehdokumentationen im Kopf: bizarre Gegend, unberührte Tierwelt, geschütztes Naturparadies. Rund 15.000 Kilometer ist das Ziel entfernt, direkte Luftlinie. Zwei Tage lang dauert allein die Anreise über Brasilien, Chile oder Argentinien bis zur Südspitze von Südamerika.

Ushuaia in Patagonien ist so etwas wie das Tor für Kreuzfahrten Richtung Südpol. Es liegt Aufbruchstimmung in der Luft. Hier auf der Südhalbkugel beginnt gerade der Sommer – nur zu dieser Zeit sind Reisen ins Südpolarmeer überhaupt möglich. Sommer in Feuerland heißt: so zwischen fünf und 20 Grad Celsius.

Im Hafen liegt die Roald Amundsen vor Anker. Gerade mal eine Handvoll Reedereien weltweit haben sich auf die Antarktis spezialisiert. Sie alle sind in der 1991 gegründeten IAATO organisiert, dem Internationalen Verband der Antarktis-Reiseveranstalter. Die Vorschriften regeln beispielsweise die Maximalzahl der Besucher, den Mindestabstand zu Brutvögeln und den Schutz der heimischen Fauna und Flora.

Luxus für die Passagiere

Bei der Einschiffung geht es zu wie im Taubenschlag. Für rund 300 Menschen aus aller Welt wird die Roald Amundsen für die nächsten zwei Wochen das Zuhause sein. Den Gästen wird es an nichts fehlen. Geräumige Kabinen, Spa-Bereich, Sauna, Fitnessraum, Pool, drei Restaurants, Panorama-Lounge, Aussichtsdeck, Science Center, Hospital – alles da. „Allein 1300 Flaschen Wein haben wir gebunkert, 12.000 Eier und 6000 kg Früchte“, sagt Lazlo, der Hotelmanager.

Als Sir Ernest Shackleton 108 Jahre zuvor mit seiner dreimastigen Schonerbark Endurance von der Insel South Georgia aus Richtung Antarktis gestartet war, hatte er ganz andere Vorräte an Bord: Futter für die 49 Schlittenhunde, zentnerweise Rindfleischpaste Bovril, Zwieback, Milchpulver, Zucker sowie Tabak. Zum Plan gehörte es, sich später von Pinguinen, Seerobben und Vögeln zu ernähren. Mittels Anzeige hatte er sich seine 27 Mann Besatzung zusammengesucht:

„Männer für gefährliche Fahrt gesucht. Geringe Heuer. Bittere Kälte. Lange Monate der absoluten Dunkelheit. Ständige Gefahr. Sichere Rückkehr zweifelhaft. Ehre und Anerkennung im Erfolgsfall.“

Shackletons Endurance fror 1915 im Packeis im Weddellmeer ein und sank später.
Shackletons Endurance fror 1915 im Packeis im Weddellmeer ein und sank später. (Foto: imago images/Underwood Archives)

Gerade mal 44 Meter lang und 7,5 Meter breit war der Segler aus Holz, der außerdem über eine Dampfmaschine verfügte. Zum Vergleich: Die MS Roald Amundsen ist 140 Meter lang und 24 Meter breit. In der Kreuzfahrtbranche ist sie allerdings eher ein Schiffchen. Doch das erst drei Jahre alte Schiff von Hurtigruten ist extra für Polarregionen gebaut und hat einen Hybridantrieb, eine Kombination aus dieselelektrischem und reinem Elektroantrieb. Es gibt sogar Wlan und Internet – über Elon Musks Starlink-Satelliten nämlich. Übrigens findet sich an Bord so gut wie kein Plastik, eine selbst auferlegte Regel der Reederei.

Die Drake Passage wartet

So sehr sich die Fortbewegung auch verändert hat, so gleich ist doch eines geblieben: der Respekt vor der Urgewalt des Meeres. Während der Durchfahrung des Beagle Channels am allerersten Abend gibt es vor allem ein Gesprächsthema: die anstehende zweitägige Überquerung der Drake Passage, des wohl berüchtigtsten Gewässers der Welt. Denn hier fließen Pazifischer und Atlantischer Ozean zusammen. „Drake is lake or shake“, heißt ein gängiger Spruch in Seefahrerkreisen. Also entweder sanft wie ein See oder eben geschüttelt wie ein Cocktail. Shackleton notierte dazu in sein Tagebuch:

„Die Gefahren der geplanten Fahrt waren extrem. Der Ozean südlich von Kap Horn ist bekanntermaßen das stürmischste Meer der Welt. Fast unablässig wüten dort Stürme.“

Die Odyssee der Endurance-Besatzung im Weddellmeer dauerte fast zwei Jahre lang.
Die Odyssee der Endurance-Besatzung im Weddellmeer dauerte fast zwei Jahre lang. (Foto: imago images/United Archives)

Am nächsten Tag fehlt ein Drittel der Gäste beim Essen. Und ein zweites Drittel hat entweder Tabletten gegen Übelkeit eingenommen oder Akupressurpunkte am Körper kleben. Es ist shaky, sogar sehr sehr shaky. Sieben Meter hoch türmen sich die Wellenberge, endlose Sekunden lang geht es nach oben, dann wieder hinunter; da braucht es Standhaftigkeit.

Weil die nicht jeder hat, sehen auch nicht alle die ersten Finnwale, die entfernt am Horizont auftauchen. Zu erkennen sind sie zuerst an ihrem Blas, der Atemfontäne, die mehrere Sekunden lang in der Luft stehenbleibt. Nicht zu übersehen sind dagegen die ersten Eisberge, die sich wie Kulissen eines Naturschauspiels majestätisch ins Bild schieben. Was bei den Passagieren Begeisterung hervorruft, beunruhigte den Seemann Shackleton damals sehr.

„Trotz all unserer Vorsicht rammte die Endurance achtern einige riesige Eisblöcke, doch die Maschinen wurden rechtzeitig gestoppt, und es entstand kein Schaden.“

Wache rund um die Uhr

Doch auch auf der Roald Amundsen herrscht erhöhte Aufmerksamkeit. „Im Eis sind wir sehr beschäftigt“, gibt Kapitän Terje Johnny Willassen zu. Eine 24-Stunden-Wache halte trotz der vorhandenen modernen Technik ständig Ausschau. Problematisch seien die kleineren Eisberge, die sich bewegten, sagt der Norweger. 44 Jahre fährt der 60-Jährige inzwischen zur See. „In Polargebiete fahren nur die Besten von uns.“

Um es abzukürzen: In der ersten Woche sind keine Anlandungen möglich. Zu stürmisch ist das Wetter, zu hoch der Seegang, zu schlecht die Sicht. Denn nur mit den Zodiacs, den kleinen Schlauchbooten, können die Passagiere an Land gebracht werden. Nicht selten steht man dabei bis zu den Knien im Wasser. Also keine Zügelpinguin-Kolonien auf Half Moon Island, kein Besuch der hörnchenförmigen Vulkaninsel Deception Island mit ihrer beschiffbaren Öffnung, kein Detaille Island und kein Peterman Island. Dafür lässt sich der Kapitän etwas ganz Besonderes einfallen, was nicht geplant war: die Überquerung des Polarkreises bei 66° 33’ südlicher Breite.

Die 28-köpfige Besatzung der Endurance kämpfte am Schluss nur noch ums nackte Überleben.
Die 28-köpfige Besatzung der Endurance kämpfte am Schluss nur noch ums nackte Überleben. (Foto: imago images/EntertainmentPictures)

Fred, der Leiter des 22-köpfigen Expeditionsteams, hatte die Gäste – in der Mehrzahl gebildete, pensionierte Akademiker – schon mantraartig auf Ausfälle vorbereitet. „Wir sind in einem extremen Gebiet. Da muss es immer Plan A, B und C geben. Oder Plan Z.“ Das Team besteht aus jungen Menschen aus aller Welt, es sind Meeresbiologen, Zoologen, Historiker, Glaziologen, Geologen, Ornithologen, Dolmetscher.

Darunter auch Sarah Sedelmaier, die in Erolzheim bei Biberach aufgewachsen ist. Altersmäßig eine Ausnahme ist Fritz aus Bayern, ein Biologe, der noch beim legendären Bernhard Grzimek promoviert hat. Die Globetrotter sind verantwortlich für die wissenschaftlichen Vorträge an Bord sowie für Outdooraktivitäten wie Schneeschuhwandern, Kajakfahren und Zeltübernachtungen.

Helle Polarnächte

Doch auch ohne jede Action ist es wunderbar, dieses atemberaubende Panorama aus Wasser, Eis und Schnee langsam vorbeiziehen zu lassen. Wer möchte, kann die ganze Nacht hinausschauen, denn es ist 20 Stunden lang hell. Unvergessliche Augenblicke beschert der Lemaire-Kanal, wenn sich spektakuläre Eiswände steuer- und backbord bis zu 1000 Meter hoch aus dem Wasser nach oben strecken. Ganz still wird es da auf dem sonst so lebhaften Panoramadeck.

Bei Temperaturen zwischen minus fünf und plus fünf Grad beruhigt sich das Wetter langsam. Auf Brown Bluff, Paradise Bay und Neko Harbour kann man Adeliepinguine aus nächster Nähe beobachten, ganz zutraulich sind sie. Sogar eine Seeleoparden-Mutter mit Baby zeigt sich. Alle Passagiere tragen die einheitlichen obligatorischen Stiefel, die vor jedem Landgang desinfiziert werden – nichts Fremdes soll hier eingetragen werden; Jacken und Hosen werden extra abgesaugt.

Die Tierwelt in der Antarktis, hier Pinguine auf Paradise Harbour, ist einzigartig.
Die Tierwelt in der Antarktis, hier Pinguine auf Paradise Harbour, ist einzigartig. (Foto: Birgit Letsche)

Blauer Himmel und glatte See machen vor Snowhill Island am allerletzten Tag noch eine der ganz seltenen Anlandungen auf einer Eisscholle möglich. Plötzlich taucht wie aus dem Nichts eine Horde Pinguine aus dem Meer auf und besucht uns – der Höhepunkt der Reise, der nicht wenige zu Tränen rührt. Das Schlusswort bleibt Sir Ernest Shackleton überlassen:

„Wir waren reich an Erinnerungen und Eindrücken. Wir hatten hinter die Fassade der Dinge geschaut. Wir hatten Gott in seiner ganzen Herrlichkeit gesehen, hatten die gewaltige Stimme der Natur vernommen.“

Kälte und Wetter schaffen bizarre Eiswelten in der Antarktis.
Kälte und Wetter schaffen bizarre Eiswelten in der Antarktis. (Foto: Birgit Letsche)

Der Geniestreich des Sir Ernest Shackleton

Es war eine Art Wettrennen, das sich der britische Marineoffizier und Polarforscher Robert Falcon Scott (1868 – 1912) und der Norweger Roald Amundsen (1872 – 1928) um die Eroberung des Südpols lieferten. Der Ausgang ist bekannt: Amundsen war am 14. Dezember 1911 der erste Mensch, der den südlichsten Punkt der Erde erreichte; sein Rivale kam erst 35 Tage später an. Auf dem Rückweg starben Scott und seine vier Begleiter an Unterkühlung und Hunger.

Sir Ernest Shackleton brachte seine Besatzung nach zwei Jahren im Eis 1916 lebend nach Hause.
Sir Ernest Shackleton brachte seine Besatzung nach zwei Jahren im Eis 1916 lebend nach Hause. (Foto: imago images/Classic Vision)

Als noch größere Leistung gilt jedoch der Geniestreich von Sir Ernest Shackleton (1874 – 1922). Weil die Ehre der Ersteroberung bereits Amundsen zuteil geworden war, beschloss der Brite irischer Abstammung eine Durchquerung der Antarktis von Küste zu Küste. Obwohl er schon vor seinem allerersten Schritt auf dem siebten Kontinent scheiterte, ging die Endurance-Expedition (1914 – 1916) als Heldentat in die Geschichte ein.

Im Dezember 1914 waren die 28 Seeleute von der Insel Südgeorgien aus gestartet. Sechs Wochen später friert das Schiff im Weddellmeer im Packeis ein. Die Mannschaft muss überwintern. Schließlich wird die Endurance vom driftenden Eis zerdrückt und sinkt. Immer wieder retten sich die Männer von Eisscholle zu Eisscholle.

Im April 1916 segeln sie schließlich mit drei kleinen Rettungsbooten nach Elephant Island. Temperaturen von minus 30 Grad, Durst, Nässe, Hunger – mehr tot als lebendig schaffen sie es. Doch niemand wird sie hier je finden. Und so beschließt der Expeditionsleiter, das schier Unmögliche zu wagen: Mit fünf Männern sticht er mit einem offenen Boot in See, um das 1500 Kilometer entfernte Südgeorgien zu erreichen.

1500 Kilometer in 16 Tagen

Die Drake Passage zeigt sich von ihrer übelsten Seite. Zwei Wochen lang wird kaum geschlafen, die Kleidung immer nass, alle haben Erfrierungen, in der aufgewühlten See kann schlecht mit dem Sextanten navigiert werden. Es gilt als Wunder, dass sie nach 16 Tagen tatsächlich Südgeorgien erreichen.

Doch sie landen auf der menschenleeren Südseite, die Walfangstation liegt auf der anderen. Shackleton und zwei weitere Kameraden machen sich erneut auf den Weg, diesmal zu Fuß und nur mit einem Beil und einem Seil ausgerüstet. 36 Stunden lang gehen sie ohne Pause über ein bis dato als unbezwingbar geltendes Gebirge aus Schnee, Gletschern und Spalten. Am 20. Mai 1916 ist das Unmögliche geschafft.

Es sollte drei weitere Monate dauern, bis die 22 Mannschaftsmitglieder von Elephant Island gerettet werden konnten. Alle lebten. Historiker sind sich einig, dass es allein Shackletons Führungspersönlichkeit, seiner mentalen Stärke, seinem Mut und seiner Vorbildfunktion zu verdanken ist, dass dieses wohl kühnste Abenteuer des 20. Jahrhunderts nach fast zwei Jahren einen guten Ausgang nahm.

Auszüge aus seinem Tagebuch werden im oben stehenden Artikel verwendet.


Die Recherche wurde unterstützt von Hurtigruten Expeditions.