Großdorf
Wie der alte „Adler“ im Bregenzerwald wieder zum Leben erwachte
Panorama / Lesedauer: 7 min

Immer wieder sonntags – ist sie aufgeregt wie am ersten Tag, obwohl der schon fast zehn Jahre zurückliegt. Dann gleitet der prüfende Blick Irma Renners in den niedrigen behaglichen Stuben des Adlers in Großdorf im Bregenzerwald über die alten Wirtshaustische. Die sind festlich mit weißen Porzellantellern, gestärkten Leinenservietten, poliertem Silberbesteck und edlen Gläsern eingedeckt.
Die Wirtin, eine schlanke, großgewachsene Frau mit zurückgestecktem blondem Haar, ist zufrieden. Alles passt. Jetzt noch schnell den Aperitif für das Team vorbereiten. Renner gießt Prosecco ein, stößt mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf einen schönen Sonntag an. Es kann losgehen in dem mit Holzschindeln verkleideten Gasthaus aus dem Jahr 1685, in dem die Wirtin die Tradition des Sonntagsessens 2013 wieder aufgenommen hat und seither mit großem Erfolg zelebriert. Bis zum späten Abend werden sich die Gäste den Drücker der schweren alten Eichentür in die Hand geben, auf die Begrüßung von Gastgeberin Renner warten, von ihr an ihren Tisch begleitet werden und dort ein liebevoll zubereitetes Sonntagsmenü genießen.
Familiäre Atmosphäre in heimeliger Stube
Gemein ist ihnen allen: Sie lieben die „familiäre Atmosphäre, die netten Leute und die hervorragende Küche“, wie Stammgast Max Ratjen aufzählt. Und dass sie nicht wie sonst im Restaurant die Qual der Wahl haben, weil es in Großdorf für alle das gleiche Menü gibt. „Im Adler ist es wie zu Hause. Man setzt sich und isst, was auf den Tisch kommt“, sagt der Produktdesigner aus Eching am Ammersee, während er seine Pasta mit Bohnen, Kirschtomaten, Minze und Käse genießt – sie ist Teil des sizilianischen Menüs, das heute kredenzt wird. Dann korrigiert sich der Feinschmecker: „Nein, es ist fast wie zu Hause. Nur viel, viel besser.“
Der Gipfel der Winterstaude, ein bei Wanderern bekannter Berg, ist mit Schnee überzuckert, die Sonne hat sich an diesem grauen Sonntagmorgen hinter die Wolken verzogen. Ein kalter Wind weht. Durch die kleinen doppelflügeligen Fenster des Wirtshauses, die mit Vorhängen mit handgehäkelter Spitze geschmückt sind, dringt warmes Licht nach draußen. Drinnen ist es angenehm, ja heimelig – schon vor Jahrhunderten wussten die Vorarlberger klug mit Holz zu bauen. Am Stammtisch wird noch gejazzt. Bald werden auch dort Sonntagsessen-Gäste Platz nehmen.
Lange geschlossen: „Es war furchtbar, den dunklen Adler zu sehen“
Lange war der Gasthof, der zuvor über Jahrhunderte bis zum Tod des letzten Wirts als Familienbetrieb geführt worden war, zugesperrt. „Es war furchtbar, den dunklen Adler zu sehen“, sagt denn auch Birgit, die gleich neben dem Gasthaus wohnt. „Alles war so traurig, so hoffnungslos.“ 2010 kauften Freunde von Irma Renner den Adler – sie konnten seinem Niedergang nicht tatenlos zusehen. Ob sie eine Idee habe, was man daraus machen könne, fragten sie die jetzige Wirtin. Renner hatte bei dem Vorarlberger Weltunternehmen Wolfurt im Bereich Marketing und Produktmanagement gearbeitet, ein halbes Jahr in New York, dann in Wien und viel in Sizilien gelebt – kurz: Sie war in der Welt herumgekommen, hatte verschiedene Kulturen kennengelernt. Eine Liebe zum Kochen und für gutes Essen hatte sie ohnehin. Das Essen im Adler, der glücklicherweise nie zu Tode restauriert worden war, mit der Familie zelebrieren, mit Freunden Zeit dafür haben – das wäre doch etwas, schoss es ihr durch den Kopf. „Die Räumlichkeiten waren wunderschön. Aber die Seele fehlte“, erinnert sich Renner an ihren ersten Besuch in dem Traditionsgasthaus. Warum sollte sie als Quereinsteigerin dem alten Adler nicht seine Seele wiedergeben, ihm nicht zu neuen Höhenflügen verhelfen? Renner überlegte. Die Inneneinrichtung fehlte komplett. Dann kam die Gelegenheit, von der Renner sagt, dass sie kein Zufall war: Ein Gasthaus in der Nähe von Bregenz machte zu, sie konnte 75 Thonet-Stühle und Wirtshaustische kaufen. „Das passiert einem nur einmal im Leben“, ist sie überzeugt. Doch wie und wann sollte der neue alte Adler öffnen? Undenkbar war für Renner, das Gasthaus die ganze Woche über offen zu halten. Aber am Sonntag, wo zudem alle im Restaurant das Gleiche essen? Das könnte doch funktionieren! Doch schon bevor der Adler wieder öffnete, gruben Kritiker sein Grab. Ohne Speisekarte? Und auch noch ohne Weinkarte? Das kann nicht gut gehen, prophezeiten sie. „Ich wusste: Sie kann das schaffen, auch wenn aller Anfang schwer ist“, sagt Ingrid Scalet, eine ehemalige Wirtin aus Großdorf. „Anfangs waren wir sehr naiv, hatten wenig Ahnung“, räumt Renner ein, die so gerne Gastgeberin ist. „Doch wir haben uns reingefuchst.“
Sonntagsbraten nach Hausfrauenart und Spitzenküche
Am Anfang noch tischten Bregenzerwälder Hausfrauen auf – Hertha beispielsweise ihren legendären Sonntagsbraten. Doch weil die Köchinnen mittlerweile in die Jahre gekommen sind, hat nach und nach Jodok Dietrich übernommen, ein ruhiger Bregenzerwälder, der bei Engelbert Kaufmann im Adler in Schwarzenberg gelernt und mit dem Schweizer Spitzenkoch Andreas Caminada gearbeitet hat. Seine rechte Hand ist Michael Hirt, seit 35 Jahren im Gastgewerbe tätig. Sind Gastköche da, und das ist in Großdorf häufig der Fall, unterstützen Dietrich und Hirt. Spitzenkoch Max Stiegl beispielsweise war schon zu Gast – als 21-Jähriger erhielt er 2001 als jüngster Koch der Welt einen Michelin-Stern. Gourmetkoch Anton Lanz aus dem Westallgäu, seit mehr als 40 Jahren einer der besten Köche Deutschlands und durch Kochsendungen in Rundfunk und Fernsehen bekannt, bereitete im Adler schon seine berühmten selbst gezüchteten Edelkrebse zu. Und auch der bekannte Liechtensteiner Koch Martin Real hat schon im Adler im Bregenzerwald aufgekocht.
Jeden Sonntag gibt es im Adler ein anderes Sonntagsmenü – „was jedes Mal eine Herausforderung ist“, wie Dietrich sagt. Mal geht die kulinarische Reise nach Japan, mal nach Galicien oder es wird beispielsweise orientalisch. Drei Wochen im Voraus kündigt Irma Renner in einem Newsletter an 3500 Abonnenten das neue Menü an. Mit der Vorbereitung des sizilianischen beispielsweise beginnt das Team am Mittwoch. Auf der Karte stehen Pizza bianca; Arancini di riso, Cimette di rapa, Melanzane e Couscous, Olive; Schwertfisch Carpaccio mit Pistazien; Kurze Pasta mit Bohnen, Kirschtomaten, Minze und Käse; Kalbfleisch mit Orangen und Kartoffeln mit Marsala; Mürbteigkuchen mit Vanillecreme und Milcheis, Cannoli al caffè. Dazu gibt es einen Aperitivo, Bier und zwei Weine. „Ich achte darauf, dass die rund 100 Essensgäste, die wir jeden Sonntag ab 11.30 Uhr haben, auf den Tag verteilt kommen“, sagt Renner. „Sonst würden wir das mit unserem kleinen Team nicht schaffen.“ Beruhigend für die engagierte Gastgeberin: Sie hat vier koch- und backtalentierte Schwestern, auf die sie immer zurückgreifen kann.
Im Dorf sind alle froh und glücklich
Dass das Gasthaus überhaupt wieder geöffnet hat, darüber „sind alle im Dorf froh und glücklich“, sagt Adler-Nachbarin Birgit. Fast seit Anfang gehört sie zum Team, ist Fachkraft fürs Servieren des Essens und kümmert sich auch sonst um alle möglichen Adler-Belange. Herzlich begrüßt sie Hubert Hagen, einen 57 Jahre alten Techniker aus Lustenau. „Weißt du noch, am Anfang hast du immer deinen Wein im Körble mitgebracht“, ruft sie ihm schmunzelnd zu. „Ich wusste ja nicht, ob die von euch ausgesuchten Weine passen“, gibt der Weinkenner zurück. Mittlerweile weiß Hagen: Sie passen.
Die Gastroszene ist im Umbruch, immer häufiger findet man an den Eingangstüren Schilder mit der Aufschrift „Restaurant geschlossen“. Könnte der Vorarlberger Sonntagsgasthof also ein Modell für andere Gasthäuser sein? Stammgast Max Ratjen sagt, dass hinter dem Adler „sehr viel steckt: sehr viel Können, sehr viel Idealismus, sehr viel Engagement, sehr viel Liebe und ein sehr gutes Niveau“.
Bis 21 Uhr hat die Adler-Küche geöffnet. Während die letzten Gäste ihr Menü in den Gaststuben genießen, fällt von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern langsam die Anspannung ab – wieder haben sie es geschafft. Gäste für den nächsten Sonntag, hauptsächlich aus Deutschland, der Schweiz und Österreich, haben sich schon angesagt: Auf der Karte steht ein venezianisches Sonntagsessen. Dass der Adler auch an den kommenden Sonntagen und an Neujahr einlädt, ist für alle selbstverständlich. „Das gehört zu unserem Konzept“, erklärt eine glückliche Irma Renner.