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Tafelladen

20 Jahre Tafelladen - die Probleme werden nicht weniger

Aalen / Lesedauer: 8 min

Seit 20 Jahren ist der Kocherladen der „Supermarkt“ für Bedürftige. Die Tafel lebt von Spenden und Ehrenamtlichen, doch in Zeiten von Alters- und Kinderarmut werden die Probleme größer und größer.
Veröffentlicht:20.01.2019, 17:06

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Dass es Menschen gibt, die täglich jeden Euro zusammenkratzen müssen, um sich Lebensmittel kaufen zu können, macht einen traurig, sagt Heidi Rödel. Einmal in der Woche arbeitet sie ehrenamtlich im Kocherladen in der Bahnhofstraße . Hier bekommt sie die Sorgen und Nöte der Menschen mit und weiß angesichts von deren Schicksalen, wie gut es ihr eigentlich geht. Seit 20 Jahren, also von der ersten Stunde an, engagiert sich die 76-Jährige in dem diakonisch-karitativen Projekt, das am 1. Februar 1999 in der Kreisstadt ins Leben gerufen wurde und für viele Bedürftige und Flüchtlinge nicht mehr wegzudenken ist.

Dienstagmorgen kurz vor 10 Uhr. Vor dem Tafelladen in der Bahnhofstraße stehen bereits zahlreiche Menschen, die darauf warten, dass die Einrichtung ihre Pforten öffnet. Man sieht Männer und Frauen mit Kleinkindern auf dem Arm, ältere Bürger, Flüchtlinge oder Wohnsitzlose. Allesamt leben sie unterhalb der Armutsgrenze und können es sich nicht leisten, in Supermärkten einzukaufen.

Für sie bleibt der Kocherladen, der ihnen günstig Waren anbietet, die Einkaufsmärkte, Bäckereien, Metzgereien, Cafés und Privatpersonen der Einrichtung überlassen. Überschuss gibt es auf der 80 Quadratmeter großen Verkaufsfläche nicht. Das Sortiment und die Menge werden durch die Spenden bestimmt, sagt Pfarrer Bernhard Richter , der Vorsitzende des Tafelladens. Insofern können an manchen Tagen die Regale bereits nach kurzer Zeit leer und Produkte wie Milch, Joghurt oder Bananen schnell vergriffen sein. Ein Grund, warum sich die Kunden bereits morgens zeitnah auf den Weg machen.

Von Mangel kann am Dienstagmorgen keine Rede sein. Nach Weihnachten sind sowohl die Tiefkühltheken als auch die Regale für Obst und Gemüse gut gefüllt sagt Gerhard Vietz , der 2006 in der Einrichtung als Ein-Euro-Jobber angefangen hat, dann als stellvertretender Projekteiter agierte und seit 2013 als Projektleiter, gute Seele und Bindeglied zwischen Kunden und Ehrenamtlichen den Laden führt. Überschuss gibt es derzeit vor allem an Nikoläusen und Lebkuchen, die in den Supermärkten übrig geblieben sind und dem Kocherladen gespendet wurden. Auch Spargel aus Peru ist nach den Feiertagen für 30 Cent zu haben.

Die Zeiten von kistenweise teurem Lachs sind vorbei

Anders sehe das Sortiment allerdings ab Februar aus. Dann herrsche hier richtiger Engpass, sagt Vietz. Die Kalkulation der Einkaufsmärkte sei in den vergangenen Jahren immer besser geworden. Es werde nicht mehr über Gebühr eingekauft, sagt Vietz und erinnert sich an Zeiten, in denen der Tafelladen von kistenweise teurem Lach geradezu überschwemmt wurde. Darüber hinaus seien die Supermärkte vor Jahren dazu übergangenen, Artikel vor dem Ablauf des Verfallsdatums zu reduzieren. „Unterm Strich bedeutet das alles, dass für uns immer weniger übrig bleibt“, bedauert Richter.

Ware dazukaufen, darf der Tafelladen nicht. Er ist auf Spenden angewiesen, die auch von Privatpersonen kommen. Vietz zeigt auf zahlreiche Kartons mit Waschmittel und Hygieneartikel, die sich in seinem Büro stapeln. Gerade hat er einen Anruf von einer Frau erhalten, die einen Todesfall in der Familie hatte. Die noch haltbaren Lebensmittel und Konserven möchte sie dem Kocherladen spenden. Und dafür ist Vietz dankbar.

Breite Unterstützung

Unterstützt werde die Einrichtung auch von Schulen und Kindergärten und im Januar von den Sternsingern, die hier ihre an den Haustüren geschenkten Süßigkeiten vorbeibringen. Oft zapft Vietz auch seine privaten Kontakte an, die dem Kocherladen dann etwa Gurken oder Zitronen spenden, die hier prinzipiell Mangelware seien. Auch mit originellen Aktionen wie „Kauf’ eins mehr“ werde versucht, an Lebensmittel zu kommen. Willkommen seien auch Geldspenden, die auf das Konto des Vereins gehen und damit etwa Miete und Nebenkosten abdecken.

Sie freuen sich, dass der Aalener Kocherladen seit 20 Jahren besteht (von links) Diakon Michael Junge, Projektleiter Gerhard Vietz, Heidi Rödel und f

Überleben kann der Kocherladen auch nur dank der ehrenamtlichen Helfer , die für Bernhard Richter Herz und Seele der Einrichtung seien und von denen der ein oder andere auch nach dem Erwerb des Sozialführerscheins für eine Mitarbeit im Tafelladen gewonnen werden konnte. Eine der derzeit 30 Helfer ist Heidi Rödel. Gemeinsam mit Hannelore Melcher, Almut Braasch und Gerburg Tull hält sie seit 20 Jahren dem Kocherladen die Treue. Jeden Dienstag rückt die 76-Jährige um 13.30 Uhr an. Nach dem Auszeichnen der angelieferten Ware und dem Einräumen in die Regale steht sie an der Kasse.

Ohne das Ehrenamt gehts nicht

Für Kunden, die ihr Herz ausschütten wollen, hat sie jederzeit ein offenes Ohr. Und so manche Geschichte habe die 76-Jährige bewegt. Rödel erzählt von Menschen, die den Strom nicht mehr bezahlen konnten und dieser deshalb abgestellt wurde, von Frauen, die nach der Trennung des Partners plötzlich mit ihren Kindern alleine dastehen, von älteren Menschen, deren Rente von vorne bis hinten nicht reicht, und von Menschen, die nach der Scheidung und dem Verlusts des Berufs in Armut geraten sind. Angesichts dieser Schicksale habe sich auch ihre Haltung zu Lebensmitteln geändert. Einen Joghurt wegzuwerfen, der nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum einen Tag abgelaufen ist, komme für sie nicht infrage.

Der Kocherladen ist heute wichtiger denn je

Neben den Ehrenamtlichen bringen auch die Fahrer Richard Ratz, der auf 450-Euro-Basis beschäftigt ist, und der Ein-Euro-Jobber Marco Küffner vollen Einsatz. Jeden Morgen brechen sie zu ihrer Tour auf und holen die gespendeten Lebensmittel bei ortsansässigen Läden und Supermärkten ab. Die im Kocherladen angelieferte Ware wird dann im Lagerraum kontrolliert und abgepackt. „Auf die Vorschriften der Lebensmittelhygiene legen wir großen Wert. Verkauf werden nur Sachen, die noch genießbar sind“, sagt Vietz. Fisch lande nach einem Tag über dem Verbrauchsdatum im Mülleimer, Fleisch- und Kartoffelsalat spätestens drei Tage nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums. Alles werde auch sorgfältig protokolliert.

Jugendgerichtshilfe schickt Schulschwänzer hierher

Neben Ein-Euro-Jobbern und Praktikanten auch aus Schulen leisten im Tafelladen straffällig gewordene Mitbürger ihre Sozialstunden ab. Vietz erinnert sich an Jugendliche, die ohne Führerschein unterwegs waren oder schwarz mit der Bahn gefahren sind. Auch Schulschwänzer werden von der Jugendgerichtshilfe hierher vermittelt.

Einkaufen kann im Tafelladen natürlich nicht jeder. Jeder Kunde müsse sein Einkommen offenlegen, und erst bei tatsächlicher Bedürftigkeit werde dann befristet für ein Jahr die Einkaufsberechtigung erteilt, sagt Vietz. Im Schnitt seien jedes Jahr rund 220 Gutscheine im Umlauf, wovon aber letztendlich eingerechnet der Kinder rund 1000 Menschen profitieren würden. Das Klientel habe sich in den vergangenen Jahren verändert. Waren es neben Hartz-IV-Empfängern anfangs türkische Mitbürger und Russlanddeutsche, würden seit gut drei Jahren auch vermehrt Flüchtlinge im Tafelladen einkaufen.

„Der Kocherladen ist heute wichtiger denn je“, sagt Richter. Die zunehmende Alters- und Kinderarmut werde dem Tafelladen noch große Probleme bereiten. Deshalb appelliert er an die Bürger, keine Lebensmittel wegzuwerfen, sondern im Kocherladen abzugeben. Denn dieser kämpfe jeden Tag darum.

Vorbild war die Wasseralfinger Vesperkirche

Der erste Tafelladen in Deutschland ist 1993 in Berlin eröffnet worden. In Aalen wurde ein solcher sechs Jahre später aus der Taufe gehoben. Den Anstoß dazu gab allerdings nicht das Vorbild in der Bundeshauptstadt, sondern die Wasseralfinger Vesperkirche, die 1997 zum ersten Mal initiiert wurde. Die Idee, in ökumenischer Zusammenarbeit eine solche auch in Aalen zu installieren, wurde verworfen. Hier sollte ein neues und eigenes Angebot entstehen, das als diakonische Einrichtung von beiden Kirchen getragen wird, sagt Pfarrer Bernhard Richter, seit 2002 Vorsitzender des Vereins von evangelischer Seite. Und so wurde der Tafelladen geboren, der 1999 in der Friedhofstraße in den Räumlichkeiten des ehemaligen Elektrogeschäfts Beißwenger seine Pforten öffnete. Aufgrund seiner Lage direkt am Kocher lag der Name Kocherladen nahe.

Von Anfang an sei der Laden gut angenommen worden. Auch wenn bei einigen die Hemmschwelle groß gewesen sei. So mancher habe sich geniert, hier einzukaufen. Im Lauf der Jahre habe sich dies geändert. Armut sei heute kein Tabuthema mehr. Auch weil die Zahlen mit Blick auf Alters- und Kinderarmut erschreckend in die Höhe gegangen seien, sagt Richter. Für ihn gebe es auch in Aalen nach wie vor viel versteckte Armut. Der Kocherladen sei ein Indikator für die soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft, ergänzt Diakon Michael Junge, seit 2015 Vorsitzender von katholischer Seite.

Gut drei Jahre lang hatte der Kocherladen in der Friedhofstraße seinen Sitz. Da sich die Fläche im Erdgeschoss des Gebäudes für die Vorbereitung und Auszeichnung der Ware jedoch als zu klein erwiesen und sich auch die Anlieferung der Lebensmittel als schwierig gestaltet habe, schauten sich die Verantwortliche nach anderen Räumlichkeiten um. Fündig wurden sie in den Räumlichkeiten in der Bahnhofstraße 55, in der einst die Bäckerei Mildenberger und danach der Pizzaservice ihren Standort hatten. Hier eröffnete der Kocherladen am 1. Dezember 2002 seine Pforten.