StartseiteRegionalOberschwabenRavensburgTür 22: Charles Dickens – der Evangelist der Neuzeit

Mief

Tür 22: Charles Dickens – der Evangelist der Neuzeit

Ravensburg / Lesedauer: 9 min

Ein Impuls, ein paar Minuten zum Entspannen - jeden Tag bis Weihnachten nimmt unser Kolumnist Gregor von Kursell Sie mit in die wunderbare Zeit des Wartens auf Weihnachten.
Veröffentlicht:02.11.2022, 16:07

Artikel teilen:

Beim Öffnen des heutigen Türchens weht uns ein unerträglicher Gestank entgegen – der Mief der Armut. Es stinkt nach Kloake, nach Fäulnis, nach Seuchen und billigem Fusel. Willkommen im frühviktorianischen London, willkommen in der Welt des Charles Dickens (1812 – 1870). In seinen Romanen prangerte der große englische Schriftsteller das Elend der Armen an.

Oliver Twist, David Copperfield, und zahlreiche andere, hierzulande weniger bekannte Romane handeln von schutzlosen Menschen, oft Kindern, die von gewissenlosen Tyrannen ausgebeutet und gequält werden. Auch mehrere Weihnachtsgeschichten widmet Dickens dem Gegensatz von Arm und Reich. Die bedeutendste, A Christmas Carol, ist im englischsprachigen Raum zur zweiten großen Weihnachtserzählung neben der biblischen geworden. Bei uns ist sie weniger bekannt – zu Unrecht.

Die soziale Frage war für Charles Dickens keine abstrakte Idee. Er selbst hatte als Kind gelernt, was es heißt, arm und schutzlos zu sein. Sein Vater lebte über seine Verhältnisse und landete schließlich im Schuldgefängnis. Auch die Familie zog dort ein – bis auf den jungen Charles, der in einer Fabrik für Schuhpolitur Geld verdienen musste, um den Unterhalt für die Familie zu verdienen.

Dickens stammt selbst aus einer Familie mit Geldsorgen

Er war gerade zwölf Jahre alt. Was er in dieser Zeit erlebte, traumatisierte ihn und machte ihn für sein ganzes Leben zum Kämpfer gegen soziale Ungerechtigkeit. Dickens schaffte es, sich hochzuarbeiten. Er wurde Journalist und schließlich Schriftsteller. Seine Geldsorgen wurde er jedoch so schnell nicht los.

Darum entschloss er sich im Jahr 1843, eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben, um seine Kasse zu füllen. Zugleich wollte er einen populären Text zur sozialen Frage schaffen, der „wie ein Vorschlaghammer“ niedersausen würde. Letzteres gelang ihm. Finanziell war das Unternehmen zunächst kein Erfolg.

Wer sich heute mit dem Gedanken trägt, eine Weihnachtsgeschichte zu veröffentlichen, muss sich gegen hunderte von Konkurrenten durchsetzen, die alle die gleiche Idee verfolgen. Im England war die Lage ein ganz andere, als Dickens zur Feder griff.

Es gab kaum weihnachtliche Literatur, das Fest war schließlich auch kein besonderes Ereignis mehr. Weihnachten zu feiern galt seit längerem als bäuerlicher Brauch vergangener Jahrhunderte. Wir haben es schon gehört: zwischen 1647 und 1660 hatten die Puritaner Weihnachten verboten. Als es dann wieder erlaubt war, hatte niemand mehr so richtig Lust darauf.

Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts aber blickten viele Menschen wieder mit Wehmut auf die alten Sitten zurück. Die sogenannte Oxford-Bewegung innerhalb der Anglikanischen Kirche versuchte, wieder an katholische Traditionen anzuknüpfen. Dazu gehörte auch die Feier von Weihnachten. Liebhaber veröffentlichten Sammlungen von Weihnachtsliedern, Schriftsteller erzählten von den ausgelassenen Feiern in Merry Old England.

Das war aber zunächst noch ein Hintergrundrauschen. An Weihnachten 1843, als Charles Dickens seinen Christmas Carol veröffentlichte, wurde das Fest in der Londoner Times vom 25. Dezember mit keinem Wort erwähnt. In der Stadt hatten nach wie vor die Calvinisten das Sagen – die Kaufleute, Börsianer und Banker. Sie hatten besseres zu tun, als sich um die altmodischen Sitten der Landbevölkerung zu kümmern. Sie wollten Geld verdienen, jeden Tag, ohne lästige Unterbrechungen.

Dickens arbeitete sich hoch - genau wie Scrooge

Ein solcher Geschäftsmann ist auch der Held von Dickens‘ Weihnachtsgeschichte. Ebenezer Scrooge hat sich – wie Dickens selbst – aus beengten Verhältnissen hochgearbeitet, aber anders als bei seinem Schöpfer ist sein Herz dabei hart geworden. Scrooge hasst Weihnachten – nicht aus theologischen Gründen, sondern weil er es für Zeitverschwendung hält, für Humbug, wie er sagt.

Das macht er auch seinem Neffen Fred klar, der ihn, wie jedes Jahr zum über die Feiertage einladen will. „Wenn es nach meinem Willen ginge, müsste jeder Dummkopf, der mit ‚Fröhliche Weihnacht‘ auf den Lippen herumläuft, im eigenen Saft geschmort und mit einem Stechpalmenzweig durchs Herz begraben werden“ ätzt Scrooge.

Scrooge ist der Prototyp des eiskalten Finanzhais. Walt Disneys geiziger Enterich Dagobert Duck ist ihm nachempfunden und heißt im Original Scrooge McDuck. Nur hat Onkel Dagobert im Vergleich zu Ebenezer Scrooge ein Herz aus Gold.

Ein Vorbild für Dickens‘ Antihelden war der britische Nationalökonom Thomas Malthus. Dieser forderte, die Anzahl der Armen reduzieren, da die Bevölkerung schneller wachse als die der verfügbaren Lebensmittel. Nicht die Armut müsse man bekämpfen, meinte er, sondern die Armen verschwinden lassen, wie auch immer das zu geschehen habe.

Ebenezer Scrooge teilt diese Ansicht und wird noch deutlicher. Da wären zunächst die Arbeitshäuser, Tretmühlen und Gefängnisse. Wenn die Hungerleider dort aber nicht hineinwollen und „eher sterben würden“, so erklärt Scrooge zwei Herren, die für wohltätige Zwecke sammeln, „so wäre es gut, wenn sie es täten und die überflüssige Bevölkerung dadurch verminderten.“

Scrooge ist Calvinist

Später wird Scrooge sehr drastisch klar gemacht, dass er selbst es sein könnte, der von höheren Mächten für überflüssig gehalten wird. Sein Geiz, seine Verachtung der Armen und des Weihnachtsfestes weisen ihn als Calvinisten aus, auch wenn Dickens über Scrooges religiöse Orientierung schweigt.

Das Gegenbild zum herzlosen Scrooge ist dessen Angestellter Bob Cratchit, der zwar schlecht bezahlt und geknechtet wird, der aber dennoch mit seiner Familie ein fröhliches Fest feiern kann. Sein jüngster Sohn, der kleine Tim, leidet an einer Krankheit, die heilbar wäre, wenn die Cratchits nur mehr Geld hätten.

Eine Weihnachtsgeschichte kann nicht dabei stehenbleiben, die Zustände zu beklagen. Scrooge bekommt Besuch von vier Geistern. Diese machen ihm klar, was er durch seine Gier und seinen Menschenhass angerichtet hat und noch anrichten wird, wenn er sich nicht ändert. Es sei an dieser Stelle verraten, dass die Geister es schaffen, aus Scrooge einen besseren Menschen zu machen. Einen, der Weihnachten liebt und den Armen hilft. Diese Wandlung lässt uns nicht kalt, vielleicht weil wir alle etwas von Scrooge in uns haben.

Mit dieser Geschichte landete Dickens einen Volltreffer. Seine Mischung aus drastischer Gesellschaftskritik und wohliger Weihnachtsstimmung schlug ein. Eine Woche nach seiner Erscheinung am 19. Dezember 1843 war das aufwändig gestaltete Buch ausverkauft und musste nachgedruckt werden.

Mehr Spenden wegen Dickens' Geschichte

Die Spendenfreudigkeit der Briten zur Weihnachtszeit soll Dank der Geschichte erheblich gestiegen sein. In England und Amerika gehört der Christmas Carol bis heute zum Kanon des weihnachtlichen Brauchtums. Kaum eine Geschichte der Weltliteratur wurde so oft kopiert, parodiert und interpretiert. Ebenezer Scrooge ist zum Helden politischer Karikaturen und politischer Traktate geworden. Wenn Dickens geahnt hätte, wie oft seine Geschichte inzwischen verfilmt worden ist…

Aber nicht nur Dickens hatte davon keine Ahnung. Auch wir wissen es nicht genau, denn jedes Jahr erscheinen neue Versionen, die Angaben schwanken, es müssen weit über hundert sein. 1901 kam in Großbritannien eine elfminütige Stummfilm-Version in die gerade erst etablierten Kinos.

Seitdem werden regelmäßig neue Interpretationen des Stoffs auf den die Leinwand und den Bildschirm gebracht. In der englischsprachigen Welt gilt die Version von 1951 mit Alastair Sim in der Hauptrolle als die beste Adaption überhaupt, obwohl sie Episoden beschreibt, die im Buch nicht vorkommen.

Kein Problem, der Autor selbst ging sehr kreativ mit seiner Schöpfung um. In späteren Jahren las Dickens seine Geschichte vor Publikum. Dabei fügte er je nach der Stimmung im Saal etwas hinzu, ließ etwas anderes weg, aber immer mit Erfolg – es ist überliefert, dass seine Zuhörer dabei weinten.

Mittlerweile gibt es viele moderne Versionen der Weihnachtsgeschichte

Darum sind auch die zahllosen modernen Variationen der Geistergeschichte keine Sünde gegen den Dickens‘schen Geist. Fast alle gängigen Helden der (amerikanischen) Kinderstube, wie Micky Maus, Mr. Magoo, die Muppets, die Schlümpfe, die Feuersteins, die Looney-Tunes-Figuren und sogar Barbie haben die Helden der Weihnachtsgeschichte verkörpert.

Besonders ambitionierte Regisseure versetzten Scrooge in eine andere Zeit und ein anders Milieu. Immer bleibt die Hauptfigur dabei ein hartherziger Arbeitgeber und Weihnachtshasser. In Deutschland populär ist „Die Geister, die ich rief“ („Scrooged“, 1988) mit Bill Murray.

Dieser gibt einen ehrgeizigen Fernsehproduzenten, der für die Einschaltquote alles tut und seine Mitarbeiter ausnutzt. Geschickt wird hier die Medienbranche als der moderne Moloch an die Stelle der Finanzwelt gesetzt. In mehreren Parodien machen die Geister aus einem spendablen Menschenfreund einen geizigen Misanthropen.

Ebony Scrooge (Vanessa Williams in A Diva’s Christmas Carol, 2003), eine egoistische, afroamerikanische Popsängerin, wird ebenso durch Geisterbesuch bekehrt wie Ben Scrooge, der nicht minder selbstsüchtige schwule Barbesitzer in Scrooge & Marley von 2012. Auch wenn die meisten Fans der Dickens‘schen Weihnachtsgeschichte diese Vielfalt nicht als Sakrileg, sondern als Bereicherung betrachten, ist die künstlerische Qualität der unzähligen Interpretationen natürlich höchst unterschiedlich.

Schon zu Lebzeiten hat die Geschichte Charles Dickens den Ruf gebracht, der Erfinder des Weihnachtsfestes zu sein. Das ist natürlich übertrieben, aber gewiss gehörte er zu den zentralen Figuren des englischen Weihnachts-Revivals.

Auf die Nachricht über seinen Tod hin soll unter den Armen Londons die Bemerkung kursiert haben, nun sei auch der Weihnachtsmann gestorben. Die Verbindung von fröhlicher Weihnachtsstimmung mit guten Taten und Fürsorge für die Armen ist Charles Dickens Erbe.

PS: Auch große Schriftsteller schaffen nicht nur bleibende Werte. Der Erfolg seines Christmas Carol motivierte Dickens, weitere Weihnachtsgeschichten herauszubringen. Diese waren kommerziell erfolgreich, sind aber heute weitgehen vergessen. Sie haben nur am Rande oder gar nicht mit Weihnachten zu tun. Sein 1845 veröffentlichtes Buch „Das Heimchen am Herd“ prägte immerhin eine Redewendung, die auch heute noch gebräuchlich ist und eine Hausfrau ohne Ambitionen bezeichnet. 1836 hatte der junge Dickens schon einmal eine Weihnachtsgeschichte veröffentlicht. Sie handelt von einem griesgrämigen Kirchendiener, der Weihnachten hasst und dafür von Kobolden bestraft wird. Die Grundzüge des Christmas Carol sind bereits angelegt, allerdings ist der Antiheld, der mürrische und versoffene Gabriel Grub, eine eher eindimensionale Gestalt.