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Autismus

Trotz Autismus ins Berufsleben starten

Tuttlingen / Lesedauer: 4 min

Gotthilf-Vollert-Schule bietet eine spezielle Berufsschulklasse an - Partner gesucht
Veröffentlicht:12.09.2016, 19:27

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Großraumbüro? Das ständige Klingeln des Telefons? Dazu das Geplapper von Kollegen, vielleicht noch Radiomusik? So können Arbeitsplätze von Menschen mit Autismus nicht gestaltet sein. Gefragt sind möglichst wenig Störfaktoren. Die Gotthilf-Vollert-Schule in Tuttlingen, die zur diakonischen Jugendhilfe Mutpol gehört, bereitet in einer eigenen Berufsschulklasse junge Autisten auf die Arbeitswelt vor. Vor einem Jahr ist das Angebot gestartet.

Das Fazit von Schulleiter Volker Schmidt und Renée Drossard vom Mutpol-Fachdienst für therapeutische Unterstützung fällt positiv aus. Viel sei erreicht worden, vieles vorangegangen. Jetzt kommt das Aber: „Nach einem Jahr sind diese Jugendlichen noch nicht so weit, dass sie einen Ausbildungsplatz finden können“, sagt Schmidt. Ein zweites Jahr sei notwendig. „Wir sind sehr zuversichtlich, dass diejenigen, die durchhalten, gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben“, so Drossard.

Breite Palette möglich

Den Autismus an sich gibt es nicht. Die Bandbreite dieser Erkrankung ist sehr groß. Teilweise geht er mit einer geistigen Behinderung einher, viele Autisten sind hochbegabt oder zumindest intellektuell normal begabt, vor allem in logischen Bereichen wie Mathematik und Naturwissenschaften. Defizite haben sie dagegen in sozialer Interaktion und Kommunikation. „Wir brauchen Arbeitgeber, die unseren Jugendlichen eine Chance geben“, sagt der Schulleiter.

Die Jugendlichen sollen in den zwei Jahren Berufsschule Praktika machen, um breite Eindrücke zu gewinnen. Computerarbeitsplätze eignen sich gut, auch der kaufmännische Bereich ist gefragt. Bislang hatte die Schule mit dem Markant-Markt Neuhausen einen verlässlichen Partner. Der ist zwischenzeitlich geschlossen. Nun gibt es wohl die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit dem Nahkauf in Tuttlingen und Seitingen-Oberflacht.

Viele Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen nehmen alle Reize ungefiltert und gleichzeitig wahr. So kann es sein, dass sie ein Gespräch unterbrechen, weil ein Passant vorbeiläuft – was in diesem Moment viel interessanter ist. Oft geht der Autismus mit einer Aufmerksamkeitsstörung einher. In der Schule gehen die Lehrer und Pädagogen daher so vor, dass sie den Kindern bei Stillarbeiten Kopfhörer geben, die Geräusche abschirmen, oder den Tisch mit Blick auf die Wand stellen, sodass es weniger Ablenkung gibt.

Diese Schutzfaktoren gibt es in der Arbeitswelt nicht. Bei den Praktika wird deshalb versucht, nicht mehrere Aufgaben zu vermischen, sondern die jungen Leute an eine nach der anderen hinzuführen: erstmal nur im Lager arbeiten, dann Regale auffüllen und schließlich in den Verkauf gehen. Struktur ist das A undO.

Wichtig ist den Lehrern, dass die Schüler ihr Verhalten benennen oder begründen können, wenn Reaktionen kommen. Volker Schmidt nennt das Beispiel eines Schülers, der nicht ohne seine Mütze sein kann: „Das muss er einem Vorgesetzten natürlich sagen, dass es nichts mit mangelndem Respekt zu tun hat, wenn er sie nicht abnimmt.“ Viele können keinen Augenkontakt halten im direkten Gespräch oder Gefühle wie Wut oder Angst nicht formulieren. Renée Drossard erzählt von einem Mädchen, das in solchen Situationen ihre Gesprächspartner gekniffen hat – weil sie sich nicht artikulieren kann. Mittlerweile kann sie sagen, „Jetzt bin ich aber sauer“, weil es mit ihr geübt wurde.

Vor acht Jahren gestartet

Vor acht Jahren ist die Gotthilf-Vollert-Schule mit einer Autismus-Spektrum-Klasse gestartet. Mittlerweile hat sie drei Klassenstufen mit insgesamt 30 Kindern, zusätzlich zur Berufsschulklasse mit sechs Jugendlichen. Die Lehrer und Pädagogen bereiten die ältesten Schüler nun in Klasse neun auf ihren Abschluss vor. Tatsächlich werden einige die Hauptschulprüfung machen.

Das Einzugsgebiet ist enorm, teilweise nehmen die Kinder und Jugendlichen Schulwege von Konstanz, Ravensburg, Sigmaringen, Balingen und Rottweil auf sich. Zwei Schüler sind vollstationär auf dem Mutpol-Gelände untergebracht. „Wir sind am überlegen, spezielle Wohnformen für Schüler mit Autismus-Spektrum anzubieten“, erklärt der Schulleiter. Dann müssten sich aber mindestens sechs Schüler finden.

Bis eine solche Störung erkannt wird, haben die Kinder, ja die ganzen Familien, oft einen langen Leidensweg hinter sich. Volker Schmidt: „Wir verstehen uns wie eine Intensivstation, wie ein Crashkurs.“ Die Gotthilf-Vollert-Schule sei hier auch Durchgangsschule, in der die Kinder so lange bleiben, bis sie wieder - oder erstmals - eine Regelschule besuchen können.

Autismus zu diagnostizieren ist schwierig. Die Ursachen für die Krankheit sind bis heute nicht vollständig geklärt, so der Fachverband „Autea“ auf seiner Homepage. Autistische Störungen gehören zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Das bedeutet, dass nahezu alle Bereiche der Entwicklung schon im frühen Kindesalter betroffen sind. Sie sind angeboren und bisher nicht heilbar. Etwa ein Prozent der Bevölkerung haben eine Autismus-Spektrum-Störung. „Die Auswirkungen der Störung behindern die Beziehungen zur Umwelt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft und die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft, da sowohl kognitive wie auch sprachliche, motorische und emotionale Funktionen betroffen sind“, so Autea.