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Donaugalerie

Material ist alles und alles ist Material

Tuttlingen / Lesedauer: 2 min

Der Engländer Tony Cragg hat es geschafft, dem Bronze-Koloss „Mean Avarage“ ein Gesicht zu geben
Veröffentlicht:16.08.2019, 18:30

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Der 1949 in Liverpool geborene Tony Cragg ist einer der wenigen internationalen Künstler der Donaugalerie und der vielleicht gewichtigste Name der Veranstaltung. Der Engländer war bis 2013 Leiter der Düsseldorfer Kunstakademie, ist Träger des Bundesverdienstkreuzes und des britischen Adelstitels „Knight Bachelor“. Zudem wurde er mit dem Turner Prize ausgezeichnet.

Diese Biografie macht ihn zum künstlerischen Schwergewicht. Cragg ist vor allem ein entscheidender Vordenker und Vorschaffer des Bildhauens, der Theorie und Praxis in komplexer Symbiose vereint. Auch sein Beitrag zur Donaugalerie hat es in sich: „Mean Avarage“ wurde 2014 in Bronze gegossen und drückt mit sieben Tonnen Gewicht auf das Tuttlinger Gerberufer.

In ihrer Form strahlt die Installation eine aufdringliche Ambivalenz aus: Sie ist ein Fremdkörper, ein Ding aus einer anderen Welt, ahmt aber durch ihre ungeheure Körperlichkeit auch undefinierbare Naturgebilde nach. Ein Steinmassiv? Organe? Bäume? Geschichtet jedenfalls, in den Himmel wachsend, ragend. Massiv, verankert und doch in virtueller Bewegung.

Wenn man näher herangeht, dann entstehen im Gebilde weitere Ebenen. Dann bekommt die Skulptur plötzlich etwas kultisches, menschliches, etwas reliktartiges und vielleicht verformen sich die bronzenen Wellen sogar zu Gesichtern. Ein formaler Turmbau zu Babel, der den Rezipient und dessen Blick als entscheidenden Betonmischer nutzt.

Cragg ist keinesfalls an einer Nachahmung interessiert, deshalb fällt es so schwer, seine Arbeit zu beschreiben. In einem Gespräch mit der Universität St. Gallen unterstrich er die Wichtigkeit seines Material-Begriffs für seine Arbeit: „Die Verbindung unserer neuronischen Funktionen und dem Material um uns herum ist mehr als integral. Es ist eins." Diese Überlegung führt im Bezug zur Bildhauerei zu einer entscheidenden Erkenntnis: Die Bildhauerei erschafft nicht nur bloße Abbilder der Wirklichkeit, sie ist selbst wirklich. Sie ist da. Sie ist real.

Auch deshalb versteht sich der Engländer als eine Art Dr. Frankenstein des Bildhauens, dessen Aufgabe es ist, eben jener unsichtbaren Materialität ein Antlitz zu verschaffen. So formt „Mean Avarage“ einen Derwisch, einen Material-Golem, der zuckt und reißt, der in alle Richtungen gleichzeitig ausbrechen möchte.

Dabei zeigt sich: Trotz seiner grandiosen Karriere wohnt dem Werk Craggs stets ein Funken Selbstironie, eine gewisse Verspieltheit, inne. Auch deshalb schmiegt sich „Mean Avarage“, dieser Koloss, so merkwürdig geschmeidig ins Tuttlinger Stadtbild ein. Jede Furche, jede Ausbeulung zeichnet einen neuen Rahmen in die Luft, lädt ein, an der Skulptur vorbeizuschauen und damit die bekannte Umwelt neu zu schreiben und im Moment umzugestalten. So wirkt das Werk von Weitem und von Nahem. Als Teil des Ganzen und als Ganzes für sich.