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„Ensslin blieb für mich die Rätselhafte“

Tuttlingen / Lesedauer: 6 min

Freiburger Autorin veröffentlicht Biografie über Gudrun Ensslin – RAF-Mitglied wuchs in Tuttlingen auf
Veröffentlicht:01.03.2017, 14:01

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„Poesie und Gewalt - das Leben der Gudrun Ensslin“ heißt die neu erschienene Biografie der Autorin Ingeborg Gleichauf. Die RAF-Terroristin Ensslin ist in Tuttlingen aufgewachsen, viele ehemalige Schulkameraden und Nachbarn erinnern sich an sie. Unsere Redakteurin Ingeborg Wagner sprach mit der Buchautorin auch über die Tuttlinger Jahre.

Frau Gleichauf , was hat den Ausschlag gegeben für die Biografie über Gudrun Ensslin?

Gudrun Ensslin war für mich die Person aus der Gruppe der ersten RAF-Generation, die mich am meisten zum Fragen angeregt hat, die mir am Undurchsichtigsten und gleichzeitig am Schillerndsten erschien. Nachdem ich gelesen hatte, was andere Autoren über sie geschrieben haben, hat sich dieses Gefühl verstärkt. Ensslin blieb für mich die Rätselhafte.

Sie stellen Gudrun Ensslin weitgehend positiv dar: fleißig, offen, wach, beliebt, eine gute Schülerin und Sportlerin, hübsch, mit guter Figur. Haben Sie da etwas die Distanz verloren? Oder bewusst ein Gegenstück gesetzt zu vielen anderen Autoren, bei denen Ensslin keine gute Presse hatte, um es salopp zu formulieren?

Für mich waren es die vielen Gespräche, die ich geführt habe, die dieses Bild entstehen ließen. Vor allem Tuttlinger Klassenkameraden und Weggefährten, die im gleichen Haus wie sie gewohnt haben, schilderten ein positives Ensslin-Bild. Dazu kamen Tonbandaufnahmen aus dem Prozess, von daher hat sich bei mir ein eher freundlicher, sanfter Eindruck Ensslins eingestellt. Auf gar keinen Fall war da eine Starrheit oder frühe Unehrlichkeit in ihrem Wesen, überhaupt nicht. Ich möchte nicht sagen, dass ich keine Distanz hatte, aber durchaus eine wirkliche Nähe zu diesem Menschen.

Wie lange haben Sie für das Buch recherchiert?

Drei Jahre lang hat es gedauert bis zum Erscheinen des Buches. Ich war viel in Archiven und habe mit Wegbegleitern gesprochen, vor allem mit Tuttlinger Gefährten. Die Menschen aus Ensslins Tuttlinger Zeit zeigten eine unglaublich große Bereitschaft, über sie zu reden oder Fotos aus damaliger Zeit zur Verfügung zu stellen. Professor Schäfer, der ein Buch über Ensslins Schulzeit in Tuttlingen geschrieben hat, nannte mir Namen ehemaliger Freunde. So ergaben sich sehr interessante Gespräche. Und ich war im Tuttlinger Stadtarchiv zur Recherche.

Gudrun Ensslin war acht Jahre alt, als ihre Familie nach Tuttlingen zog. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr, das war 1958, hat die Familie in Tuttlingen gelebt, zuerst in der Dekanatswohnung in der Freiburgstraße 44, ab 1955 im Pfarrhaus in der Blumenstraße. Inwieweit war diese Zeit prägend?

In dem Maße, wie die Schulzeit für alle Menschen prägend ist. In einer anderen Stadt wäre das vielleicht genau so gewesen. Wichtig war aus meiner Sicht die Lektüre, die in ihrer Schulzeit durchgenommen wurde, aber auch das wäre in einer anderen Stadt und einer anderen Schule wohl ähnlich gewesen. Für mich als Autorin entscheidend waren die Erinnerungen der Menschen in Tuttlingen an sie. Ich hatte bei keinem den Eindruck, er möchte nicht mehr darüber reden, jeder hat bereitwillig erzählt, was in Erinnerung geblieben ist.

Und die Geschwister Ensslins? Ihr Sohn?

Die Familie war im Gegensatz zu den Freunden ganz zurückhaltend. Lediglich ihre Schwester Ruth reagierte auf meine Anfrage, indem sie darauf hinwies, dass sie nicht mehr über ihre Schwester sprechen möchte. Gudrun Ensslins Sohn, der bei Pflegeeltern aufwuchs, lebt heute in Stuttgart und ist Professor für Kunstgeschichte. Er hielt sich auch bedeckt.

An der Erwähnung anderer Autoren über Ensslin als schwäbische Pfarrerstochter stören Sie sich mehrfach. Doch auch Sie schreiben, dass die Tuttlinger von Anfang an auf die Familie aus der Dekanatswohnung schauten. „Evangelisch zu sein, heißt in Tuttlingen, zu den Menschen zu gehören, die die Atmosphäre maßgeblich mitbestimmen.“ Also hatte die Familie und auch Gudrun Ensslin durchaus eine gewisse Sonderstellung.

Ja, das ist völlig klar. Mich stört nicht die Erwähnung, dass sie Pfarrerstochter war, sondern dass sie dadurch gebrandmarkt war, festgelegt auf ganz bestimmte Deutungen, wie strenges Elternhaus und die Moralkeule, die damit in Zusammenhang gebracht wurden. Das entspricht nicht der Realität. Das Haus Ensslin war ein offenes Haus, es wurde musiziert, der Vater hatte künstlerische Ambitionen. Im Tuttlinger Pfarrhaus verkehren Persönlichkeiten wie Gustav Heinemann und Martin Niemöller.

Vor allem die Geschwister Hanna und Helmut Lachenmann, die im selben Haus wohnten, erwähnen Sie häufig.

Ja, die Familie Lachenmann lebte mit Ensslins in der Freiburgstraße unter einem Dach. Hanna Lachenmann hat Ensslin Briefe ins Gefängnis geschrieben und sie dort besucht.Helmut Lachenmann hat eine Oper über Gudrun Ensslin geschrieben mit dem Titel „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, in dem er Texte Ensslins aus dem Info, der Post der inhaftierten RAF-Mitglieder, vertont hat.

Sie tun sich in Ihrem Buch schwer damit, den einen Auslöser oder auch die Summe dieser zu benennen, die zur Radikalisierung Ensslins geführt haben.

Aus meiner Sicht hat die Förderung durch die Studienstiftung des deutschen Volkes, auf die Ensslin lange gewartet hat, ihr wirklich gefehlt: Nicht nur in Form eines Gesprächspartners auf gleicher Ebene, sondern auch jemand, der von einer höheren oder distanzierteren Warte auf ihre Arbeit geschaut und andere Aspekte hineingebracht hat. Hier alleine zu sein war ein schwieriger Punkt für Ensslin. Dann war sicherlich die Situation in der Bundesrepublik Deutschland ein Faktor. Es wundert mich, dass so selten darauf hingewiesen wird, dass der Mord an dem Studenten Benno Ohnesorg der erste Tabubruch überhaupt war. Ich will nicht sagen durch den Staat, sondern durch Vertreter dieses Staates. Das hat in Puncto Gewalt von Seiten derer, die sich gegen das gewehrt haben, was sie als ungerecht in der Gesellschaft angesehen haben, vieles in Bewegung gebracht.

Sie gehen in der Biografie auf Ensslins große sprachliche Begabung, ein. Mit der Radikalisierung ändert sich auch Ensslins Schreibstil, hin zu stakkatoähnlichen Tiraden ohne Punkt und Komma. Hat sie sich also auch in der Sprache verloren?

Ich denke eher, dass die Gewalt Eingang in ihre Sprache gefunden hat. Ensslin hat sich zeitlebens vor allem über die Sprache ausgedrückt. Die hat sich mit der zunehmenden Radikalisierung verändert.

Wie schauen Sie auf Ensslins Leben? Mit Betroffenheit, mit Traurigkeit?

Nein, beides nicht. Eher mit dem Anreiz, weiter darüber nachzudenken. Ich habe bei meinen Lesungen einen enormen Gesprächsbedarf festgestellt. Es gibt viele Menschen, die die Frage nach der Radikalisierung umtreibt, gerade in einer Zeit, in der die Gewaltbereitschaft zunimmt. Als ich einen Verlag für mein Buch gesucht habe, hat mir eine Programmleiterin eines großen Verlags die Antwort gegeben, dass es ja Fachleute gibt, die sich dieses Themas annehmen. Offensichtlich hat eine Gruppe von Autoren die Deutungshoheit über die RAF-Zeit. Das sind immer die selben Leute. Ich will hier nicht immer nur Stefan Aust erwähnen, sondern sie alle charakterisierten Gudrun Ensslin auf die gleiche Weise, teilweise ohne Quellenangabe. Mein Buch ist der Versuch, eine andere Geschichte der RAF zu schreiben, neue Ansätze zu präsentieren, damit ein Denkprozess in Gang kommt. Das wird auch mich noch eine Weile beschäftigen.

Eine Lesung mit Ingeborg Gleichauf gibt es am Dienstag, 7. März, ab 19 Uhr im Evangelischen Gemeindehaus in Tuttlingen. Veranstalter ist Stiefels Buchladen.