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Wie Spaichingen sich nach Kriegsende wirtschaftlich neu erfand

Spaichingen / Lesedauer: 4 min

Spaichingen hat sich auch wirtschaftlich immer wieder neu erfunden
Veröffentlicht:04.12.2020, 05:00

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Verwaltungszentrum der vorderösterreichischen Region Oberhohenberg für mehr als vier Jahrhunderte, dann württembergisch ab 1805/06, von den Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren dem Landkreis Tuttlingen zugeschlagen, hat sich Spaichingen wirtschaftlich, politisch und kulturell immer wieder neu erfunden.

Ein früherer großer Arbeitgeber: die Möbelfabrik Gustav Bühler.

Nach dem Krieg mit gut 4000 Einwohnern hat es sich zum Zentrum der Verwaltungsgemeinschaft und zum starken Wirtschaftsstandort mit inzwischen über 13.000 Einwohnern entwickelt. Über diese Periode hat Regina Braungart mit der Leiterin des Spaichinger Gewerbemuseums, Angelika Feldes, gesprochen.

Der Neuanfang nach dem Krieg: Wo kam Spaichingen her und wo stand die Stadt, wirtschaftlich gesehen, 1945?

Die Wirtschaftsstruktur war bis Ende des zweiten Weltkriegs geprägt durch Landwirtschaft und Handwerk, seit den 1870er-Jahren durch eine sehr späte Industrialisierung mit den Schwerpunkten Holzindustrie, Nahrungs- und Genussmittelindustrie mit Tabakverarbeitung und Brauereien samt angeschlossener Gastronomie. Es gab zwei Teigwarenhersteller; die Firma Anton Peter existiert noch als „Spaichinger Nudelmacher“.

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Wie kommt Spaichingen zu einer Zigarrenherstellung? Hier wächst doch kein Tabak.

Es gab in Dürbheim einen Johann Butsch , der Kaufmann war und im Badischen in der Tabakindustrie gearbeitet hat. Ihm war klar, dass hier die Leute von den landwirtschaftlichen Erträgen kaum leben konnten.

Butsch hat 1872 sein Know-how und seine weltweiten Geschäftsbeziehungen nach Spaichingen gebracht. Möglich war das aber nur, weil es seit 1869 einen Eisenbahnanschluss gab, so konnten Tabake aus aller Welt herangeschafft werden. Arbeitskräfte gab es hier mehr als genug, vor allem Frauen, die eine durchs Nähen geschulte Feinmotorik hatten.

Stumpenherstellung bei der Firma Burger war vor allem Frauenarbeit.

Butsch musste 1928 aufgeben, ebenso ehemalige Mitarbeiter, die sich selbstständig gemacht hatten. 1928 übernahm die Schweizer Firma Burger die bankrotten Firmen. Burger hatte in den 1950er-Jahren 4000 Beschäftigte, allein 700 im Spaichinger Werk und 900 in Filialen, die von Spaichingen aus verwaltet wurden.

1958 wurde das Verbot der maschinellen Herstellung von Zigarren aufgehoben, Burger hat dann voll automatisiert. Dadurch fielen die meisten Arbeitsplätze weg. Zudem hat die Zigarre in den 1950er-Jahren einen Imagewandel erlebt: Sie war nicht mehr modern. Die Jungen haben lieber Zigaretten geraucht. 1978 wurde das Werk geschlossen.

Was gab es noch?

Eine gewisse Bedeutung hatte zwischen 1900 und den 1940er-Jahren auch der Tourismus, der heute ja keine Rolle mehr spielt. Dieser Aspekt wurde im Dritten Reich gefördert, zum Beispiel mit einem Prospekt. Man hat insgesamt schon versucht, mehrgleisig zu fahren. Aber insgesamt war die Stadt eher ländlich geprägt mit später Industrialisierung.

Wer ist denn auf die Idee gekommen, den Tourismus zu fördern? War das die Fortentwicklung der Wallfahrt?

Nein. Die Natur hat während der Industrialisierung eine immer stärkere Idealisierung erfahren, die Leute wollten aus den Städten raus in die Natur. Das Wandern und der Skisport haben um die Jahrhundertwende einen unglaublichen Boom erfahren. Und in Spaichingen gab es Leute, die sich informierten, was in der Welt passiert. Diese haben 1903 einen Fremdenverkehrsverein gegründet. Spaichingen hatte einen recht zuverlässigen Schneereichtum, gute Luft und eine schöne Landschaft. Darauf haben sich dann auch die Gastronomen eingestellt. Es gab sogar eine Jugendherberge auf dem Dreifaltigkeitsberg.

Aber Spaichingen hat doch auch eine zentralörtliche Funktion gehabt?

Ja, Spaichingen war Oberamtsstadt. Das bedeutet, dass verschiedene Behörden hier angesiedelt waren, zum Beispiel das Kameralamt. Heute würde man Finanzamt sagen. Im Oberamtsgebäude, in dem heute das Polizeirevier angesiedelt ist, saß der Oberamtmann, der in etwa den Status eines heutigen Landrats hatte. Durch die Behörden gab es auch viele Beamte in Spaichingen.

Bildeten diese Beamten dann ein modernes Element in der Spaichinger Gesellschaft?

Die waren sicherlich ein modernes Element in der Hinsicht, dass sie nicht unbedingt aus Spaichinger Handwerksfamilien kamen, sondern Leute waren, die eine höhere oder akademische Ausbildung genossen hatten und nach Spaichingen versetzt worden waren. Diese Beamten hatten zum Teil in großen Städten gelebt und brachten mit ihren Familien andere Lebensgewohnheiten und Ansprüche mit.