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Berufskolleg

Wie junge Leute geködert werden

Spaichingen / Lesedauer: 4 min

Berufsschüler erleben ein spannendes Theaterstück aus ihrer Lebenswelt
Veröffentlicht:29.11.2018, 17:11

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Ein Thema, mit dem sich die jungen Leute der Spaichinger Berufskollegs Technik und Wirtschaft sowie der Wirtschaftsschule ganz offensichtlich schon auseinandergesetzt haben: Was passiert da mit jungen Leuten, wenn sie von Extremisten geködert werden? Wenn ihr Bedürfnis nach Sinn, Antworten und Zugehörigkeit scheinbar erfüllt wird? Das Theater „Q-rage“ aus Ludwigsburg hat das alles in die Geschichte einer zerbrechenden Freundschaft verpackt. Rund 110 Schüler folgten der Aufführung, die Diskussion darüber folgte.

Das Ganze ist ein Präventionsprojekt, finanziert vom Innenministerium . Zehn von 50 Modulen sind im Präsidiumsbereich zugesagt. Drum waren auch Gäste der Präventionsabteilung der Polizei Tuttlingen – Bettina Rommelfanger und Michael Ilg – und ein Kollege aus Ludwigsburg dabei. Treibende Kraft, an diesem Projekt teilzunehmen, war Lehrerin Nadine Herrmann.

Tarek und Lina – Sandkastenfreunde, in der Schule eher symbiotisch zuammen haltend: Tarek kommt nicht so richtig mit, Lina flüstert ihm die richtigen Antworten zu. Sie halten zusammen und kommen nicht auf die Idee, dass sie, bis auf eben die individuellen Unterschiede, grundlegend verschieden sein sollten. Schulstress, ein durch Arbeitsplatzwechsel erzwungener Umzug ins Bayrische von Lina sind eine Seite. Die Identitätssuche als Sohn eines türkischen Migranten und einer deutschen Mutter die andere.

Die beiden Freunde haben im Grunde dieselben Probleme mit Zugehörigkeit und Identität, driften durch ihre Antworten aber immer mehr auseinander: Lina findet endlich Anschluss bei einer scheinbar coolen Gruppe, Tarek bieten sich ein paar junge Männer als Gesprächspartner und „Brüder“ im Internet an.

Anfangs ist es spürbar nicht einfach für die jungen Leute zwischen 15 und etwa 20 Jahren im großen Unterrichtsraum, sich den Schauspielern so zu öffnen, dass sie ihre eigene Geschichte vielleicht wiederfinden. Es wird geflüstert, die Körperhaltung mancher Schüler ist reserviert. Doch die Schauspieler Laura Pletzer und Daniel Neumann wirken authentisch, ohne sich anzubiedern oder „pädagogisch“ zu wirken.

„Wer kann verstehen?“

Sie sind sparsam mit Jugend-Gesten, klar die Aussagen, eine Prise Selbstironie. Sie stellen aus dem Stück auftauchend immer wieder Fragen: „Wer findet, dass Respekt wichtig ist? Wer findet, dass es wichtig ist, dass man seine Meinung sagen kann?“ „Wer kann verstehen, dass sich Lina schlecht fühlt, weil sie wegziehen muss?“ Es trauen sich sogar ein paar Wenige zu strecken, die finden, sie solle sich nicht so anstellen.

Mit eingespielten Filmsequenzen schafft das Theater weitere visuelle Perspektiven: Tareks Lehrerin drückt ihre Sorge aus, weil er sich immer mehr verhärtet, in der Schule zu scheitern droht und gleichzeitig immer weniger Respekt Frauen und Mädchen gegenüber zeigt; oder besonders eindrücklich die Szene, in der Lina durch „Tom“ zu einem Rechtsrockkonzert („Die Zeit ist reif“) mitgenommen wird, das von Neonazi-Symbolen wie „88“ oder der schwarzen Sonne strotzt, und die sich anstecken lässt von den einfachen Zuschreibungen (Arbeitsplätze wegnehmen, Frauen bedrohen, Wohnung wegnehmen durch Ausländer).

Tarek wiederum gleitet in der Konfrontation mit seiner einstig besten Freundin ins „Wir-Ihr-Schema“ ab. Er isoliert sich von der Familie, weiß scheinbar besser, als andere, wie Islam zu leben ist, dank seiner neuen Freunde im Internet, die ihn ins Kalifat locken wollen.

Wie spiegelbildlich diese eigentlich feindlich gegenüber stehenden Ideologien sind, wird glasklar, als zum Schluss die Sprüche in Schlagworten wie Gerechtigkeit, Aufstehen gegen „die Politiker“ und „die da oben“ wie in einem Puzzle eingespielt werden.

Die Spaichinger Schüler sind gebannt, reagieren auf eine sehr gewalttätige Szene, in der Lina voller Hass eine Kiste zerstört, mit Unwohlsein, reflektieren die Szenen glasklar („Die machen Gehirnwäsche“, „Man kann denken, was man will, aber man darf niemanden verletzen“ – oder einschränken). Spontan ist der Beifall nach dem Schlusswort von Daniel Neumann: „Die Welt ist nicht schwarz und weiß, sie ist bunt. Und das ist gut.“ An einem weiteren Termin wird das Ganze noch nachbesprochen.