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Vorlesesessel

Seit das Buch erschien, schreit er nicht mehr im Schlaf

Spaichingen / Lesedauer: 4 min

Lesung mit Autorin Anja Tuckermann am Gymnasium Spaichingen – „Mano – Der Junge, der nicht wusste, wo er war“
Veröffentlicht:23.04.2019, 16:51

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Eine kleine, stille Frau mit langen, schwarzen Locken sitzt mit geradem Rücken auf dem roten Vorlesesessel. Sie liest konzentriert mit ruhiger Stimme. Sie erzählt den Neuntklässlern des Gymnasiums Spaichingen die authentische Geschichte von Mano, den es als elfjährigen Überlebenden des Todesmarsches von Sachsenhausen und des Lagers Auschwitz nach Frankreich verschlägt. Seinen richtigen Namen verschweigt Mano der französischen Familie von Madame Fouquet, die ihn wie ein eigenes Kind aufnimmt, aus Angst, wieder ins Lager zu kommen. Dass seine Eltern noch leben und ihn suchen, weiß er nicht.

Die Schriftstellerin Anja Tuckermann wurde 1961 geboren und wuchs in Berlin-Kreuzberg auf. Sie schrieb bereits 23 Bücher, Belletristik und Kurzprosa für Erwachsene und Kinder, Theaterstücke, Texte für Musik und Film. Ihre Werke sind in 15 Sprachen übersetzt. Drei ihrer Bücher befassen sich mit Menschen, die es wirklich gibt und mit denen sie befreundet ist. Durch den Roman „Muscha. Ein Sinti-Kind im Dritten Reich" kam sie 1995 zum Schreiben über Einzelschicksale von Sintifamilien im Dritten Reich.

Kindheit im Todeslager

Nach eineinhalb Jahren Interviews kam 2005 ihr zweiter Roman zum Thema heraus, „Denk nicht, wir bleiben hier – Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner “. Hugo habe ihr erstes Werk im Museumsladen des KZ Bergen Belsen gefunden und sie angerufen mit der Bitte, auch sein Schicksal aufzuschreiben, da es doch sonst vergessen würde. Es ging sehr schwer, meinte Anja Tuckermann. Denn 60 Jahre lang hatte er nicht über seine Kindheit im Todeslager gesprochen. Er fand anfangs kaum Worte für die Grausamkeiten. Und es fiel ihm auch schwer, die Erinnerung daran auszuhalten. Für die Recherche sei sie in Archiven des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes auf die Kindersuchakte von Hugos Freund Mano gestoßen.

Nun kam sie auf Einladung von Rotraud Birnbreier, Leiterin der Stadtbibliothek, als Gast in die Mediathek des Gymnasiums Spaichingen, um aus ihrem Jugendbuch „Mano – Der Junge, der nicht wusste, wo er war“ (2008) zu lesen. Immer sucht sie dabei den Blickkontakt und das Gespräch zu den 45 Neuntklässlern im Publikum. Sie zeigt Fotos von Mano als Baby im Kinderwagen in seiner Geburtsstadt München, mit Bernsteinkette um den Hals „Damals wusste er noch nicht, dass er ausgegrenzt wird.“ Und als Zwölfjähriger mit verletzten Schienbeinen und geschwollenen Füßen, ein Zeichen seiner Unterernährung. Dessen Geschichte erzählt sie.

Im Publikum wird es atemlos still

Der verstörte Junge ist voller Angst, obwohl die Todesgefahr vorüber ist. Angst davor, von Leichenbergen zu träumen „Überall Tote! So viele Tote“, wacht er nachts immer wieder schreiend und am Boden kauernd auf. Er kann die Dunkelheit nicht ertragen und nicht allein sein. Fast atemlos ruhig wird es im Publikum, als die Autorin vormacht, wie der traumatisierte, vor Hunger ausgemergelte Mano seine Suppe in der Familie aß, den Teller mit beiden Händen festklammernd, ohne den Blick von den anderen zu lassen.

Sie erklärte den Jugendlichen, warum der Besitz eines Gefäßes für die spärliche Wassersuppe im Lager so überlebenswichtig war. Sie machte auch deutlich, warum Kinder, die im KZ waren, ihre erlernten Verhaltensweisen nicht so schnell ablegen konnten. Absoluter Gehorsam, keine Fragen zu stellen, genau zuzuhören und zu beobachten, davon war das Überleben abhängig.

Mano hat diese Schreckenszeit überlebt. Er war einer von 23 000 Sinti und Roma, die in Vernichtungslager wie Auschwitz deportiert wurden. Nur etwa 1000 davon schafften das. Seine Tätowierungsnummer Z 3526 (Z stand für „Zigeuner“, die Zahl für die Aufnahmenummer unter den männlichen Häftlingen) hat er nicht tilgen lassen. Sie gehört zu seinem Leben. Heute ist Mano 86 Jahre alt und lebt seit 62 Jahren mit seiner Ehefrau als Antiquitätenhändler. Erst seit das Buch herauskam, sagt seine Frau, schreit er nicht mehr im Schlaf.