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Messerattacke

Zeugen schildern die Ängste nach der Tat

Rottweil / Lesedauer: 5 min

Messerattacken-Prozess in Rottweil: Der Angeklagte Uwe B. hält sich die Ohren zu
Veröffentlicht:11.08.2020, 18:10

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Tag zwei im Prozess um die Messerattacke im Rottweiler Jobcenter: Der Angeklagte Uwe B. hält sich die Ohren zu, während Kolleginnen des Opfers von den dramatischen Minuten nach der Tat berichten.

„Ich hatte wirklich Angst, sie verblutet“, berichtet eine der Kolleginnen am Montag im Zeugenstand vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts. Nachdem sie an jenem 16. Januar in ihrem Büro im achten Stock aus der Etage darunter Tumult und Schreie gehört hatte, sei sie mit anderen Mitarbeiterinnen nach unten geeilt. Vor dem Zimmer des Opfers – die Tür war zu – habe sie einen Mann stehen sehen: den Täter. Er habe in leicht belustigtem Ton und einladender Handbewegung gesagt: „Kommt alle und rettet sie.“

Der Mann habe zunächst gesagt, er habe das Opfer „niedergeschlagen“. Als sie in das Büro ging, wo das Opfer auf dem Boden lag und von einer anderen herbeigeeilten Kollegin beruhigt wurde, sei erst langsam klar geworden, was passiert ist. „Ich habe erst das viele Blut nicht gesehen, der Teppichboden hat alles aufgesaugt.“ Erst als das Opfer gesagt habe, „er hat tatsächlich auf mich eingestochen“, habe sie an der Seite der 51-Jährigen näher nachgeschaut, wo das Blut herausgequollen sei. Da sei ihr bewusst geworden, wie ernst es um die Kollegin steht.

Sie sei dann wieder aus dem Büro gegangen, am Täter vorbei, ins Zimmer einer weiteren Kollegin, die völlig unter Schock gestanden sei, und dann in die Küche. Dort habe sie Handtücher geholt, mit denen sie die Wunden abdrückte. „Es war klar, dass es mehrere Stiche sind, aber ich wusste nicht wie viele.“ Ihr sei klar gewesen, dass hier „ein Kampf“ stattgefunden habe. An der Fensterbank habe sie Blutspritzer gesehen, der Schreibtischstuhl sei in Richtung Tür gelegen.

Das Opfer habe noch gesagt, sie verstehe nicht, was da passiert sei. Es sei ein ganz normales Gespräch mit dem Kunden gewesen. Als sie gesagt habe, sie wolle ein Gesundheitsgutachten von ihm, sei er ausgerastet. Die andere Kollegin habe zwischenzeitlich die Tür abgeschlossen. „Er stand ja immer noch da draußen. Keiner wusste zu dem Zeitpunkt, wie es weitergeht, ob wir auch angegriffen werden. Ich habe nur gehandelt. Es war alles schwer zu realisieren.“

Sichtlich mitgenommen schildert die Zeugin, wie sich der Zustand des Opfers beim Warten auf die Rettungskräfte verschlechterte. „Am Anfang war sie stark, dann wurde sie immer blasser und leiser. Da hab ich es mit der Angst zu tun bekommen.“

Eine weitere Kollegin, die die Rettungskräfte alarmiert hat, berichtet, dass der Angeklagte auf dem Flur zu ihr mit stolzem Unterton gesagt habe, „ich habe sie verletzt“. Einhellig sagen die Zeuginnen an diesem Tag, der 58-Jährige sei nach der Tat völlig ruhig gewesen, habe „zufrieden“ gewirkt.

Die Wartezeit auf die Rettungskräfte sei quälend lang gewesen. Als sie am Telefon gefragt habe, wie lange es noch dauere, sei ihr erklärt worden: „Sie haben einen Amokfall. Wir können nicht kommen. Erst muss der Täter gefasst werden.“ Ihr sei angesichts des Zustands des Opfers klar gewesen, dass nicht mehr viel Zeit bleibt. Ein Problem sei gewesen, dass die Aufzüge im ehemaligen Telekom-Hochhaus „mal wieder“ defekt gewesen seien. Dass der Täter noch da gewesen sei, habe sie nervös gemacht, berichtet eine weitere Mitarbeiterin. „Er stand vor dem Zimmer und hat auf seinem Handy rumgetippt. Ich habe gesagt er soll sich irgendwo reinsetzen. Ich dachte, ich kann ihn vielleicht einschließen. Aber er sagte, er bleibt stehen und wartet auf die Polizei.“

Mehrere Kunden des Jobcenters sind direkt nach der Tat noch ahnungslos auf dem Flur unterwegs. Eine Frau will beim Opfer ihren Termin wahrnehmen und klopft an der Tür, eine andere schaut sich Stellenanzeigen an der Wand an. Zuvor hatte sie laute Schreie gehört. „Dann kam der Mann grinsend aus dem Zimmer“, berichtet sie. Der Täter habe sich zu ihr gestellt. Er habe gesagt, er habe „das angekündigt“. Die Zeugin sagt aus, sie habe den Mann aus der Rottweiler Wärmestube flüchtig gekannt. „Da hat er Kaffee ausgeschenkt, Essen ausgeteilt, er war eigentlich ganz nett.“ Aufgefallen sei ihr nie etwas.

Das Tatgeschehen hat bei den Kolleginnen des Opfers bis heute Auswirkungen. „Die Bilder, die Angst um die Kollegin – das hat sich eingebrannt“, sagt die Zeugin, die die Wunden abdrückte. Sie habe Medikamente nehmen müssen, sie sei ängstlicher geworden, es sei unerträglich, wenn jemand plötzlich hinter ihr steht.

Auch die Familien der Mitarbeiterinnen, die nach dem Alarm zunächst nicht wussten, was im Jobcenter passiert ist, hätten gelitten. „Es ist erschütternd, wie eine Person in der Lage ist, bei so viele Menschen ins Leben einzugreifen“, sagt eine Zeugin. Man habe danach versucht, sich gegenseitig Halt zu geben.

Der 58-jährige Uwe B. ist wegen versuchten Mordes angeklagt. Er hatte zum Prozessauftakt ausgesagt, er habe mit der Tat „ein Zeichen“ gegen das Jobcenter setzen wollen.

Uwe B. missachtet das Gericht an diesem zweiten Prozesstag weiterhin, steht nicht auf, schüttelt ab und zu den Kopf. Irgendwann nimmt er dann doch die Finger aus den Ohren und hört unbewegt den Tonbandeinspielungen des Notrufs zu.