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Mordversuch

Vorwurf des Mordversuchs wackelt

Rottweil / Lesedauer: 4 min

Vor dem Landgericht Rottweil bezeichnet Gutachter den Angeklagten als schuldunfähig
Veröffentlicht:26.11.2018, 21:51

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Im Prozess wegen neunfachen versuchten Mordes hat der psychatrische Gutachter Dr. Jan Bulla den Angeklagten vor dem Landgericht Rottweil wegen psychotischer Störungen als schuldunfähig bezeichnet. Der 30-Jährige soll am 20. November 2016 in einem Mehrfamilienhaus im Tuttlinger Ludwigstal gezielt Brandstiftung begangen haben. „Für mich ist nicht klar geworden, wie der Brand passiert ist. Ich kann kein Motiv erkennen“, sagte der Gutachter am Montag.

Am vorherigen Verhandlungstag (wir berichteten) hatte der Brandsachverständige erklärt, dass die auf höchster Stufe eingeschaltete Herdplatte, auf der wohl ein Anorak lag, einen Vollbrand hätte auslösen können. Wenn das Kohlenmonoxid im Treppenhaus aufgestiegen wäre, hätte das zur Katastrophe mit Toten führen können, sagte der Experte.

Deshalb wirft Oberstaatswalt Christoph Kalkschmid dem 30-Jährigen gezielte Brandstiftung vor. In dem Mehrfamilienhaus hätten auch die übrigen neun Bewohner getötet werden können. Nach dem Gutachten von Dr. Bulla vom Zentrum für Psychiatrie Reichenau stellt sich die Frage, ob es statt vorsätzlicher lediglich fahrlässige Brandstiftung war. In diesem Fall fiele der Vorwurf des neunfachen Mordversuchs weg.

Angeklagter sei früher schon auffällig gewesen

Das Unglück hatte sich seit Monaten angekündigt. Das machten die Aussagen der Schwester und der Brüder des Angeklagten im Zeugenstand deutlich: Die 44-Jährige, die sich als „eine Art zweite Mama“ für ihren kleinen Bruder bezeichnete, berichtete, der Angeklagte sei schon als Junge „auffällig gewesen“. Seine Verfassung habe sich im Laufe der Zeit weiter verschlechtert. Man hätte ihn wohl früher professionell behandeln lassen müssen, auch wenn sich Eltern und Geschwister liebevoll um ihn gekümmert hätten.

Immer wieder sei es zu Problemen gekommen, als Vater und Mutter über Monate in der heimatlichen Türkei und der jüngste Sohn allein in der Wohnung gewesen sei. Ständig habe man in der Angst gelebt: „Wann tickt er wieder aus? Wann schreit er wieder herum? Was schlägt er wieder zusammen?“ Die Wohnung sei fast immer in einem chaotischen Zustand gewesen, gemeinsam habe man jedes Mal aufgeräumt.

Und so sei es auch im November 2015, als die Reise der Eltern in die Türkei anstand, die Frage gewesen, ob man dem Angeklagten die Wohnung allein überlassen könne, zumal sich oft auch Nachbarn beschwert hatten. „Ich war dagegen“, sagte die 44-Jährige. Doch letztlich habe sich der Familiensinn durchgesetzt. Und so kam, was alle befürchtet hatten.

Hatten Vorfälle mit Drogenkonsum zu tun?

Der junge Mann wurde daraufhin ins Vinzenz-von-Paul-Hospital in Rottweil eingewiesen. Insgesamt war er dort sechsmal zur Behandlung. Mal wurde er offiziell entlassen, mal verschwand er von sich aus.

Im Januar 2018 kam es dann zu mehreren Vorfällen: Zunächst riss er an einem Pkw einen Heckscheibenwischer ab. Dann lief er am späten Abend in der Neuhauser Straße plötzlich auf die Straße, eine Autofahrerin konnte gerade noch anhalten. Er schlug dennoch mit beiden Fäusten auf die Motorhaube und hinterließ eine Delle. Im weiteren Verlauf pöbelte er Passanten an, umarmte sie „aggressiv“, wie ein Betroffener am Montag berichtete, und fragte, ob sie selbstmordgefährdet seien. Schließlich legte er sich mit der herbeigerufenen Polizei an. Er schlug ebenfalls heftig auf die Motorhaube des Polizeiwagens, beleidigte die Beamten mit üblen Schimpfworten, attakierte sie und schlug einen von ihnen. Nur mit größter Kraftanstrengung konnte er gebändigt werden, wie mehrere Polizisten als Zeugen erklärten.

Der psychiatrische Sachverständige erklärte, der Angeklagte sei bei seinen Taten unter dem Eindruck eines „stark ausgeprägten psychotischen Erlebens“ gestanden. Offen sei, ob das mit dem teilweise extremen Drogenkonsum zusammengehangen habe oder etwas anderes passiert sei. Auf jeden Fall müsse man bei allen vier Taten von einer Schuldunfähigkeit ausgehen. Die psychischen Episoden seien „äußerst stark ausgeprägt“.

Zwar sei der 30-Jährige derzeit auch ohne Medikamente verhältnismäßig stabil, aber das liege an der intensiven Behandlung im Zentrum für Psychiatrie auf der Insel Reichenau . Die Gefahr eines Rückfalls bezeichnete Dr. Bulla als verhältnismäßig groß. Minimiert werde es nur, wenn der 30-Jährige keine Drogen konsumiere und gleichzeitig regelmäßig Medikamente einnehmen. Auf die Fragen von Karlheinz Münzer, dem Vorsitzenden Richter, und Verteidiger Rasmus Reinhard, ob es eine Alternative zur geschlossenen Anstalt gebe, erklärte der Gutachter, dass eine Wohngruppe unter regelmäßiger Aufsicht denkbar wäre.

Die Plädoyers sind für den Mittwoch um 8.30 Uhr geplant.