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Streit um Notarzt-System im Landkreis Rottweil

Primtal / Lesedauer: 6 min

Es kommt zu Verzögerungen, weil teilweise Notärzte von zuhause abgeholt werden müssen
Veröffentlicht:20.08.2019, 11:00

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Im Kreis Rottweil werden Notärzte für einen Einsatz teilweise auch an ihrer Privatadresse abgeholt. Das führt zu Verzögerungen, die vermeidbar wären, und hat nun über die Kreisgrenzen hinweg zu öffentlichen Kontroversen geführt.

Wenn, wie nachts in Teilen des Landkreises Rottweil , das Notarzt-Fahrzeug nicht direkt zum Einsatzort fahren kann, sondern davor erst einmal den Notarzt zu Hause abholen muss – in vielen Fällen einmal quer durch die Stadt und wieder zurück –, verzögert das die Hilfsfristen zum Teil erheblich. Die Notarzt-Hilfsfrist von 95 Prozent kann – im Gegensatz zu den Rettungsdienst-Fristen – im Kreis Rottweil nicht eingehalten werden. Diese besagt, dass in 95 Prozent der Fälle der Notarzt innerhalb von 15 Minuten am Einsatzort sein muss.

Kein Rettungsdienstbereich hält Vorgaben ein

Zwar ist, wie aktuelle Zahlen zeigen, in keinem der 34 Rettungsdienstbereiche im Land die gesetzliche Vorgabe eingehalten worden, doch Insider wissen: Ausgerechnet im Kreis Rottweil, wo man 2018 bei 93,7 Prozent lag, wäre die Einhaltung der Hilfsfrist dank der guten Struktur mit drei Notarzt-Standorten in Rottweil, Schramberg und Oberndorf möglich – wenn die Abholung freiwilliger Notärzte an ihrer Privatadresse in Rottweil und Schramberg nicht wäre.

Arbeiten über regulären Dienst hinaus als Notarzt

Grundsätzlich sind laut Rettungsdienstgesetz die Krankenhäuser für die Stellung des Notarztes verantwortlich. Sollten sie dazu nicht in der Lage sein, können sie auf Dienstleister wie das Tübinger Institut für Katastrophenmedizin zurückgreifen oder den in Rottweil üblichen „freiwilligen Dienst“. Das sind niedergelassene Ärzte oder solche, die noch im Krankenhaus tätig sind, und die über ihren regulären Dienst hinaus als Notarzt ausrücken.

Am Wochenende auf niedergelassene Ärzte zurückgreifen

Im Landkreis Tuttlingen sind die Notärzte an den beiden Klinik-Standorten Tuttlingen und Spaichingen stationiert. Die Notarzt-Einsatz-Fahrzeuge (NEF) werden dabei vom Roten Kreuz gestellt, so DRK-Kreisgeschäftsführer Oliver Ehret im Gespräch mit unserer Zeitung. In Spaichingen habe der Notarztfahrer rund um die Uhr sein Zimmer direkt im Krankenhaus, in Tuttlingen in unmittelbarer Nähe der Klinik, in der Zeppelinstraße. „In der Regel“, so Ehret, rückt der Notarzt also direkt von einem Krankenhausstandort aus.

Allerdings könne es in Ausnahmefällen – etwa an Wochenenden – vorkommen, dass man auch hier auf niedergelassene Ärzte zurückgreift, die eine Notfallarzt-Qualifikation haben. „Es gibt in Deutschland einfach zu wenige Ärzte, die auch eine Qualifikation als Notärzte haben“, so Ehret. „Und wenn dann ein niedergelassener Arzt mit einer solchen Qualifikation sagt, er macht das, er möchte aber von zuhause abgeholt werden, dann macht man das in Ausnahmefällen auch.“

In Rottweil wird tagsüber der Notarzt vom Krankenhaus gestellt, zu den übrigen Zeiten kommen jedoch die „Freiwilligen“ zum Einsatz. Für den Schramberger Notarztstandort ist ebenfalls die Helios-Klinik Rottweil verantwortlich. Seit das Krankenhaus geschlossen wurde, rücken zum einen Notärzte vom Institut aus, zum anderen niedergelassene Ärzte im Rahmen des freiwilligen Dienstes. Lediglich in Oberndorf verrichten die Notärzte ihren Dienst vom Krankenhaus oder von der Wache aus.

Landratsamt schreitet nicht ein

Das muss auch die Regel sein. Das Innenministerium ließ daran bereits 2014 in einem Schreiben keinen Zweifel: „Eine Notarztabholung bei einer Privatadresse sollte immer nur als Ultima Ratio und nur interimsweise geduldet werden“, heißt es da.

Allerdings ist im Kreis Rottweil die Aufsichtsbehörde – also das Landratsamt – beziehungsweise der zuständige Bereichsausschuss bislang nicht eingeschritten. Wie hinter den Kulissen zu vernehmen sei, drohen die betreffenden Notärzte, einfach keinen Dienst mehr zu leisten, wenn an der Regelung gerüttelt wird. Zudem seien die Krankenkassen, die 50 Prozent der Stimmen im Ausschuss halten, nicht unbedingt an einer womöglich teureren Lösung interessiert.

Klinik muss die Stellung der Notärzte rund um die Uhr übernehmen

Sollten die Krankenkassen hier eine Änderung blockieren, obwohl sie erforderlich ist, „machen sie sich angreifbar“, sagt der Landesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Südwestdeutscher Notärzte, Eduard Kehrberger. Für ihn liegt die Lösung auf der Hand: Wenn einige Notärzte nicht regelkonform Dienst tun wollen, dann müsse die Klinik die Stellung der Notärzte rund um die Uhr übernehmen. „Das ist in den allermeisten Landkreisen überhaupt kein Problem“, erklärt er. Und so einem Haus wie der Helios-Klinik in Rottweil sei das ohne weiteres zuzumuten.

Notarzt Gebhard Pfaff aus Schramberg hatte daraufhin im Interview mit dem Schwarzwälder Boten gesagt, dass in seinen Augen diese Regelung nicht das eigentliche Problem sei, wenn es um die ärztliche Versorgung im Landkreis Rottweil geht. „Notärzte wachsen nicht auf den Bäumen“, so Pfaff. „Und die Abholung von zu Hause wird auch an anderen Standorten praktiziert, zum Beispiel in Horb, in Lahr oder Offenburg.“

Kapazitäten in den Notaufnahmen sind das Problem

Das Problem im Landkreis Rottweil sieht Pfaff nicht bei der Hilfsfrist der Notfallversorgung. „Da gibt es ganz andere Probleme: nehmen Sie zum Beispiel die Kapazitäten in den Notaufnahmen oder denken Sie an die häusliche Pflege von Schwerkranken. Hier fehlt es an Geld und Personal.“

Daraufhin hatte sich der Leiter des Instituts für Katastrophenmedizin in Tübingen, Stefan Gromer , zu Wort gemeldet. Insbesondere die Argumentation Gebhard Pfaffs, dass es bei einem Notfall eben nicht auf jede Minute ankomme, hält Gromer für „höchst gewagt“.

Wer es professionell macht weiß, dass es sehr wohl um jede Minute geht.

Leiter des Instituts für Katastrophenmedizin in Tübingen, Stefan Gromer

Gromer, selbst ausgebildeter Leitender Notarzt, nennt als Beispiel Herzkammerflimmern, bei dem die Überlebenswahrscheinlichkeit nachgewiesenermaßen pro verstreichender Minute um zehn Prozent sinkt.

Viele Freiberufler

Das Deutsche Institut für Katastrophenmedizin in Tübingen unterstützt mit seinen Notärzten – davon 20 fest angestellt, und rund 250 Freiberufler, die meist auch noch in einer Klinik tätig sind – rund 50 Rettungswachen in Baden-Württemberg. Im Kreis Rottweil sind es die Wachen in Schramberg und Oberndorf. Und seine Notärzte, betont Gromer, würden ihren Dienst selbstverständlich auf der jeweiligen Wache ableisten.

Fünf Prozent der Fälle sind egal?

Dass sich die Aufsichtsgremien auf den guten Hilfsfristen im Landkreis Rottweil ausruhen, müsse laut Gromer kritisch gesehen werden. Die 15 Minuten, die zur Berechnung herangezogen werden, seien per Gesetz schon die Ausnahme im Einzelfall. Eigentlich seien zehn Minuten für den Rettungsdienst und Notarzt zugrunde gelegt. Man rechne also von vorneherein schon mit fünf Minuten mehr – der Weg vom Fahrzeug zum Patient sei da noch gar nicht eingerechnet. Gromer: „Dass man mit einer 95-prozentigen Hilfsfrist im Kreis Rottweil zufrieden ist, bedeutet also: Fünf Prozent der Menschen sind uns egal?“

Es ist wie so oft eine Geldfrage

Gromer nennt als Beispiel die Rettungsdienst-Bereiche Saulgau und Pfullendorf, in denen jetzt umgestellt wurde: Die Abholung zu Hause entfällt, die Notärzte leisten ihren Dienst nun auch auf der Wache, die Hilfsfrist habe sich sprunghaft verbessert.

Das Argument, dass es gar nicht genügend Notärzte gibt, und der Dienstplan nun einmal gefüllt werden muss, lässt Gromer nicht gelten: „Es ist wie so oft eine Geldfrage: Für das richtige Geld kriegen Sie jede Zunft an jeden Ort.“