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Nur wer sich verkleidet, gehört dazu

Mengen / Lesedauer: 5 min

Wie der Berliner Dokumentarfotograf Jens Gyarmaty die Mengener Fasnet erlebte
Veröffentlicht:19.02.2018, 18:00

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Über die Fasnetstage hat sich ein Fotojournalist aus Berlin im Hotel Baier einquartiert, um die fünfte Jahreszeit in Mengen mit der Kamera festzuhalten. Jens Gyarmaty ist freiberuflicher Dokumentarfotograf und arbeitet unter anderem für den „Spiegel“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. „Ich bin aus meinem Alltag ausgebrochen und in eine ganz andere Welt eingetaucht. Es war für mich eine neue Erfahrung, also eine echte fünfte Jahreszeit“, erzählt Gyarmaty der „Schwäbischen Zeitung“.

Es war Zufall, dass er von der Mengener Fasnet erfuhr. Er saß im Bundestag und wartete auf einen Abgeordneten, mit dem er für eine Reportage verabredet war. Es war eigentlich Routine. Gyarmaty arbeitet regelmäßig im Bundestag. Er hatte den Computer aufgeklappt, um noch ein wenig zu arbeiten. „Die Fraktionsebene ist ein starrer, langweiliger und konservativer Ort. Plötzlich öffneten sich die Türen der Fahrstühle und es kamen in Schüben Narren in ihren Häsern heraus“, sagt Gyarmaty. Das habe nicht den Konventionen entsprochen, sondern den Rahmen gesprengt. „Es war eine willkommene Abwechslung im Arbeitsalltag“, sagt der Fotojournalist. Er habe sofort Bilder gemacht und das Gespräch gesucht. Er traf auf die Mengener Zunftmeister Michael Vogel und David Hoheisel, die ihm von der Mengener Fasnet erzählten. Er habe sich gar nicht vorstellen können, dass man über fünf Tage aus allen Konventionen aussteigt, um sich in ein Konstrukt von Ritualen zu begeben. „Ich wollte wissen, wie das ist“, sagt er.

Überraschung um 6 Uhr morgens

Kurzerhand buchte er ein Zimmer im Hotel Baier, fuhr los. Es war eine schwierige Reise, weil es geschneit hatte und schwierig auch, weil er keine Vorstellung davon hatte, was ihn konkret in Mengen erwarten würde. Es war ein Abenteuer, weil Fasnet für ihn völlig unbekannt war. Er kam in der Nacht vor dem auseligen Donnerstag um 1 Uhr an, Hotelier Klaus Härle hatte auf ihn gewartet. Er erklärte ihm, dass sich die Narren am Morgen um 6 Uhr im Pub Café träfen. So überraschte der Berliner Fotojournalist die Zunftmeister Vogel und Hoheisel , als er am frühen Morgen im Pub eintraf.

Es ging für ihn mit der Schülerbefreiung los. Ohne Fasnetshäs, nur mit der Kamera und einem außergewöhnlichen Blitz in der Hand. Das machte neugierig. Es sprach sich schnell herum, dass er ein Berliner Fotojournalist sei. „Ich wurde beobachtet, viele sprachen mit mir. Ich spürte die positive Neugier und auch die ablehnende Skepsis“, erzählt Gyarmaty. Im Laufe des Morgens lieh ihm Zunftmeister Hoheisel sein Plätzleshäs. Dankbar sei er hineingeschlüpft und habe gespürt, wie sich dabei die Perspektive total verändert: Es sei notwendig, sich zu verkleiden, einfach um dazu zu gehören, merkte Gyarmaty. Er habe sich danach im Discounter ein paar Requisiten gekauft, um sich für den Ball zu kostümieren. Er habe bei der Auswahl lange gebraucht, weil er erst ein Verhältnis dazu aufbauen musste. „Wer sich in Berlin verkleidet, der möchte seine Identität verändern. In der Travestie zum Beispiel. Aber darum geht es an der Fasnet ja nicht“, stellte Gyarmaty fest.

Gyarmaty nahm an vielen Veranstaltungen teil, ließ sich mitnehmen, intuitiv treiben, hörte auf die Empfehlungen, die er hier und dort bekam. „Man ist als Fremder darauf angewiesen, dass Einheimische einen mitnehmen“, sagt er. Er war unter anderem in den Schulen, in der Apotheke, beim Moritatenumzug und anschließenden Empfang im Hause Raiser, er ging nach Hohentengen zum Umzug und auch nach Pfullendorf. Immer fotografierte er, mehr intuitiv und professionell, weil es keine Pause gab, um das Gesehene zu reflektieren. Es war zu neu und verwirrend.

Rituale geben Sicherheit

Die Umzüge haben ihn beeindruckt. Starke Emotionen entstehen, wenn die Narren in Kontakt mit den Zuschauern treten, wenn man in eine Maske schaut, aber wie fühlt es sich unter der Maske an, war eine seiner Fragen. Rituale, Traditionen und Gemeinschaft geben Sicherheit: Man weiß, was zu tun ist und gehört dazu, so lange man den Abläufen folgt. Das könnte aber auch einengend werden, war sein Verdacht. Als Großstadtmensch muss man sich immer neu erfinden - die eigene Identität wird ständig gefordert, weil man sich auf unterschiedliche Menschen einstellen muss. Durch die Begegnung mit vielen unterschiedlichen Lebensentwürfen lernt man die Freiheit des Einzelnen als großen Wert zu schätzen. „Auf der Fasnet habe ich gelernt, dass es das Gegenteil gibt und dass die Menschen Wiederholung und Traditionen wählen, um ein Gefühl von Zugehörigkeit zu erzeugen. Die richtige Balance aus beidem ist der richtige Weg“, vermutet Gyarmaty.

Viele Gespräche haben sich ergeben, meist oberflächliche. Die Fasnet ist ein Moment der niederschwelligen und unverbindlichen Begegnungen. Über Gemeinsamkeiten fühlt man sich verbunden. Interessant war für Gyarmaty, dass es in einer Kleinstadt keinen Rückzugsort im öffentlichen Raum gibt. In Berlin setzt er sich oft in ein Café, um allein zu sein, um nachzudenken und zu schreiben. In Mengen sei das nicht möglich: Immer kam jemand vorbei, der ihn erkannte, ein nettes Schwätzle hielt. Das war bereichernd und anstrengend zugleich. So floh er sogar nach Saulgau, um mal kurz abzutauchen und aufzuatmen.

Insgesamt sei die Fasnet in Mengen aber eine wirklich spannende und intensive Erfahrung gewesen, für Jens Gyarmaty ein wohltuendes Austreten aus seinem Berliner Alltag.