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Emanzipation

Es ging um Emanzipation und freie Liebe

Weingarten / Lesedauer: 4 min

Auch in der Region gab es eine 68er Revolte – Vortrag an der Weingartner Akademie liefert Rück- und Einblicke
Veröffentlicht:24.06.2018, 14:10

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„Die 68-er“ – heute ein häufig bemühtes Synonym für die Hippie-Kultur – stand damals für Widerstand, für soziale Veränderungen, für sich ändernde Geschlechterrollen. Was genau die Jugendrevolte in der Provinz, also in der Region Bodensee-Oberschwaben, für sich reklamierte und wie die „68er“ die politische Kultur verändert haben, – das beleuchtete Stefan Feucht, Leiter des Kulturamtes Bodenseekreis, in seinem Vortrag vergangene Woche in der Akademie in Weingarten . Nicht minder interessant: die anschließende Podiumsdiskussion mit Zeitzeugen. Leider stieß dieses Thema nur bei etwa 30 Zuhörern auf Interesse.

Tatsächlich sei dieser „schillernde aber auch umstrittene Kampfbegriff der 68er“ erst gut zehn Jahre nach der Studenten- und Jugendbewegung der Jahre 1968/69 verwendet worden, erklärt Feucht. Emanzipation, Partizipation und Transparenz – das waren die Ideen und Schlagworte, die der 68er Bewegung zugrunde lagen. Der sich wandelnden Wohlstandsgesellschaft eine neue Freiheit und Lebensqualität abtrotzen – das wollten die Anhänger. Diese tatsächlich weltweite Bewegung Ende der 1960er-Jahre machte auch vor Oberschwaben nicht Halt und Stefan Feucht erläutert anhand alter Fotoaufnahmen und unterlegt mit Recherche-Aufzeichnungen, was sich nach dem Wirtschaftswunder in der Region vom Bodensee bis Biberach tat. Was der Vietnamkrieg, der Klassenkampf und auch der gewaltsame Tod des Studenten Benno Ohnesorg mit den Schwaben machte.

Aktion gegen Springer

Nicht alle Zuhörer scheinen altersmäßig zur 68er-Generation zu gehören, die Jungen sind eindeutig in der Minderzahl. Mit Fotos aus der Zeit belegt Feucht, dass im April 1968 in Weingarten eine Aktion gegen Springer stattfand und im Mai 1968 junge Menschen in Ravensburg gegen die Notstandsgesetze demonstrierten. Eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt den jungen Studenten Rudolf Bindig (Kreisrat und ehemaliger Bundestagsabgeordneter), wie er bei einer Art Polit-Theater den Axel-Cäsar-Springer mimte.

Schülerproteste aus dem Gymnasium Überlingen sind überliefert, bei hiesigen NPD-Veranstaltungen hagelte es Stinkbomben, bei einem Auftritt von Kurt Georg Kiesingers (dem damaligen Bundeskanzler mit NSDAP-Vergangenheit) in Biberach kam es zu derart heftigen Protesten, dass das TV-Magazin „Monitor“ darüber berichtete. Bei Teach-Ins, Hearings und mithilfe eines eigenen Presseorgans – dem Konstanzer Extrablatt – machte die engagierte oberschwäbische Jugend sich gegen die Notstandsgesetze stark.

Auch die Nachwirkungen und Folgeerscheinungen zählt Feucht auf: Maoistische Gruppierungen formierten sich, die Grünen hatten dort ihre Anfänge, ein alternatives Milieu etablierte sich. Aus der Revolte entstand die Schüler- und Lehrlingsbewegung, Frauenbewegungen und Filmclubs (wie die Linse in Weingarten) oder Musikfestivals haben dort ihre Wurzeln – ebenso wie neue Wohn- und Lebensform-Projekte.

„Wir wollten den Wandel“

Welch großes Potential hinter der Studenten- und Jugendrevolte steckte, darüber erzählen im Anschluss verschiedene Zeitzeugen aus der Region. Die linksliberal erzogene Lehrertochter Christa Lauber zählt sich selbst zu den Basis-68ern der Biberacher Szene und macht im Nachgang ihren damaligen Freund („Vielleicht war der damals schon ein Influencer“) und ihr eigenes moralisches Gerechtigkeitsempfinden verantwortlich für ihr Mitwirken an Protesten gegen den Vietnamkrieg. Den Überlinger Alexander Plappert, Militärdienstverweigerer und Mitglied der Rockband „Shuffles“, zog es bald nach den Protesten am Bodensee nach Berlin, wo er vorübergehend der Hausbesetzerszene angehörte. Ihn habe 1968 zunächst der neue, junge und autoritäre Direktor seines Gymnasiums „geärgert“, so der Betriebswirt 50 Jahre später. „Aber wir wollten den grundsätzlichen Wandel und keinen Kapitalismus mehr“, ergänzt er.

Damit entspinnt sich eine kleine Debatte mit Ulrich Müller (Umwelt- und Verkehrsminister a.D.), die sich um damalige Regelverletzungen und ein allgemeines Demokratieverständnis dreht. Das stößt nicht bei allen Podiumsteilnehmern auf Akzeptanz, gibt aber dem Moderator der Runde, Dietmar Schiersner (Direktor an der PH Weingarten), Gelegenheit, einen wichtigen Satz zu platzieren: „Das Schöne an der Demokratie ist, dass wir nicht alle einer Meinung sein müssen“. Den damals 24-jährigen Jürgen Leipold hat mobilisiert, „mit welcher Härte die Staatsgewalt getroffen hat“, bei den Studentenunruhen, bei denen Ohnsorg zu Tode kam. „Das hätte jeder von uns sein können“, sagt der Konstanzer, der sich noch immer gut daran erinnert, dass die Polizei alles dafür getan habe, die Aufklärung dieses Dramas zu verhindern.

Nicht alles war politisch

Einig sind sich die Teilnehmer darin, dass die Revolte damals wichtig und nötig war. „Aber ehrlicherweise muss man auch sagen, dass nicht alles rein politisch war. Es ging schon auch um freie Liebe“, ergänzt Lauber.