Eichhörnchen

Aus dem Leben gerissen

Weingarten / Lesedauer: 6 min

Der Weingartener Steffen Müller hat Kampf gegen den Krebs verloren – Für Frau Peggy ist nichts mehr, wie es war
Veröffentlicht:27.07.2018, 12:01

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Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Ein Eichhörnchen klettert spielerisch einen nahe gelegenen Baum hinauf. Doch der Schein trügt. Inmitten der saftig grünen Wiese zeugt ein frisch ausgehobenes und neu bepflanztes Grab von dem tiefen Schmerz, den die 48-jährige Weingartenerin empfindet.

„Das ist dann alles, was bleibt“, sagt Peggy Müller sichtlich bewegt. Die vergangenen Monate haben an ihr gezehrt. Die sonst so positive, fröhliche und starke Frau wirkt erschöpft. Monatelang hat sie ihren Mann Steffen Müller unterstützt, gepflegt und schließlich beerdigen müssen. Trotz größter Anstrengung, Zuversicht und Lebensmut hat er den Kampf gegen den Bauchspeicheldrüsenkrebs verloren. Für seine Frau Peggy bricht damit eine Welt zusammen. Greifbar und real wird der Schicksalsschlag erst durch das gelbbraune Holzkreuz inmitten der trügerischen Idylle. Darauf steht geschrieben: „Steffen Müller. *1965 – †2018“

Rückblick: Im Sommer 2016 spürt der damals 50-jährige Steffen Müller den ersten Schmerz im Rücken, hat nach jeder Mahlzeit Hustenanfälle. Stets hat er gesund gelebt, nicht geraucht und kaum Alkohol getrunken. Da die Schmerzen aber rasch stärker werden, sucht Müller einen Arzt auf. Doch die Ursache kann nicht ausfindig gemacht werden. Das gilt auch für zahlreiche weitere Arztbesuche in den folgenden eineinhalb Jahren. Kurzzeitig ist gar von Hypochondrie die Rede. Als dann jedoch im Dezember 2017 erstmals ein MRT gemacht wird, ist klar: Steffen Müller hat Bauchspeicheldrüsenkrebs. Der hat bereits gestreut und kann nicht operiert werden.

20 Kilo innerhalb weniger Wochen verloren

Da Müller ansonsten körperlich in einem sehr guten Zustand ist, beginnt er Anfang 2018 direkt mit einer sehr starken Chemotherapie. Diese setzt ihm in der Folge aber so zu, dass er nach zweieinhalb Sitzungen abbrechen muss. Innerhalb von wenigen Wochen hat er 20 Kilogramm Körpergewicht verloren. Fortan setzt Müller auf alternative Heilmethoden. Da diese sehr kostspielig sind, organisieren Freunde und Bekannte einen Spendenabend. Doch neben Geld schenken ihm die Freunde viel mehr: Freude, Kraft und Zuversicht. Er darf, er kann, er will die Hoffnung nicht aufgeben.

Daher erklärt er sich Ende März auch mit einem Artikel in der „Schwäbischen Zeitung“ einverstanden. Während einige wenige diesen Schritt kritisieren, nehmen extrem viele Zeitungsleser Anteil am Schicksal der Familie. Zahlreiche Briefe und Anrufe gehen bei der SZ ein. Die Menschen unterstützen die Familie finanziell, versuchen sie auf neue Heilmethoden oder Studien hinzuweisen oder reden ihnen einfach gut zu. „Da haben so viele Menschen Anteil genommen. Das war überwältigend. Das hat meinem Mann auch kurz neue Kraft gegeben“, erinnert sich Peggy Müller.

Ich weiß, wann ich ein Spiel verloren habe“

Doch die Kraft reicht nicht aus. Wenige Wochen später kommt Steffen Müller erst in die Notaufnahme des Krankenhauses St. Elisabeth in Ravensburg, später auf die Palliativstation. „Es ging dann rasend schnell“, sagt Peggy Müller. „Wir haben die Schmerzen einfach nicht mehr in den Griff bekommen.“

Die ersten Tage sei ihr Mann noch voller Hoffnung gewesen. Doch irgendwann weicht der Optimismus dem Realismus. „Ich weiß, wann ich ein Spiel verloren habe“, sagt der leidenschaftliche Fußballer zu seiner Frau. Nicht nur für ihn, sondern auch für Peggy Müller einer der bittersten Momente. Bis dahin hatte das Ehepaar trotz der schlechten Prognose daran geglaubt, dass Steffen es schaffen könnte. „Ich habe das erst nicht realisiert, dass es jetzt zu Ende geht. Man befindet sich wie in einem Kosmos“, sagt Peggy Müller. Doch ab diesem Zeitpunkt gibt es nur noch eine Realität. „Jetzt müssen wir uns mit dem Gedanken des Verabschiedens auseinandersetzen.“

Drei Tage vor seinem Tod heiratet das Paar

Doch bevor sich Peggy und Steffen Müller voneinander verabschieden, gehen sie noch einmal aufeinander zu. Am 26. April heiratet das Ehepaar kirchlich. Bis dahin waren sie nur standesamtlich getraut gewesen. „Wir hatten eigentlich vor, das im kommenden Jahr in einem anderen Rahmen zu machen“, sagt Peggy Müller. Doch die Krankheit, der Krebs, lässt das nicht zu. Also organisieren enge Freunde die Trauung in der Krankenhauskapelle mit roten Luftballons und bunten Blumensträußen. In schwarzem Anzug und buntem Kleid schreiten die beiden, geführt von ihren zwei Söhnen, vor den Altar. „Das wollte er unbedingt erleben“, sagt Peggy Müller, für die der 26. April schön und schmerzhaft zugleich war. „Wenn man vor dem Altar steht und weiß, es bleiben nur noch Tage und Stunden, ist das auch sehr traurig.“

Doch all die Kraft, die Steffen Müller für die Trauung noch einmal mobilisiert hat, ist bereits am nächsten Tag gewichen. „Da hat er für sich entschieden, dass er nicht mehr kann“, erinnert sich Peggy Müller. Gemeinsam mit ihren Söhnen und einigen Freunden steht sie ihrem Ehemann, dem Vater, dem Freund die kommenden zwei Tage zur Seite. Am Sonntag, 29. April, stirbt Steffen Müller im Alter von 52 Jahren.

Familie war für mich früher der Inbegriff des Glücklichseins. Damit kann ich jetzt gar nichts mehr anfangen“

Damit fällt Peggy Müller in ein tiefes Loch. „Ich wirke zwar stark, aber mir geht es sehr schlecht“, sagt sie. So einsam wie nie zuvor in ihrem Leben fühle sie sich, lebe nur von Tag zu Tag. Der Sommer stehe im totalen Gegensatz zu ihren Gefühlen. Der freie Sonntag, den sie sonst immer mit ihrem Mann verbracht habe, sei am schmerzhaftesten. „Familie war für mich früher der Inbegriff des Glücklichseins. Damit kann ich jetzt gar nichts mehr anfangen“, sagt Müller. Ihr Beruf als Kosmetikerin und die guten Freunde geben ihr Halt. Und genau bei diesen Freunden, Verwandten und Helfern, aber auch den Krankenschwestern auf der Palliativstation und nicht zuletzt allen anteilnehmenden Zeitungslesern möchte sie sich ganz herzlich bedanken. In ihrem Namen und dem ihres Mannes.

Es fühlt sich wie ein Alptraum an

Diese Nähe, Hilfsbereitschaft und Wärme haben ihn tief berührt und ihm sehr auf seinem Weg geholfen, hatte Steffen Müller in einem Telefonat einige Tage vor seinem Tod noch unterstrichen. Es sei ihm ein großes Anliegen, all diesen Menschen noch einmal ausdrücklich seinen Dank auszusprechen.

Seiner Frau Peggy stehen weiterhin schwere Wochen und Monate bevor. Sie hat den Tod ihres Mannes bis heute nicht realisiert, geschweige denn verarbeitet. Noch immer fühle es sich wie ein Alptraum an, aus dem man nun endlich aufwachen wolle. Doch so weit ist Peggy Müller noch lange nicht. Das weiß sie selbst am besten. „Ich sage ungern, er hat, ich sage, er ist. Ich spreche und schimpfe auch mit ihm.

Er hat gesagt, dass er als Schutzengel da ist. Dann soll er nun auch seinen Job machen“, sagt sie und hält sich an der gemeinsamen Heimat, dem gemieteten Haus in Weingarten fest. „Ich möchte hier auf keinen Fall raus. Er ist hier immer dabei. Ich spüre, dass er bei uns ist.“ Auf der Bank neben ihr saß vor wenigen Wochen noch ihr Mann. Nun ist der Platz verwaist. Steffen Müller fehlt – und ist doch irgendwie allgegenwärtig.