
Schließungen von Geschäften, keine Veranstaltungen, weitgehend leere Schulen und Kindergärten: Die Corona-Pandemie stellt jeden von uns vor große Herausforderungen. In den Schulen ist dies zum Beispiel der Unterricht am Bildschirm anstatt im Klassenzimmer.
Wie das konkret geht und welche Hürden dabei zu überwinden sind, schildert Michael Roth. Der Leiter des Rupert-Neß-Gymnasiums und gelernte Journalist, fasst seine Erfahrungen anhand eines beispielhaften Schultags in einer Reportage zusammen und zieht ein (Zwischen-)Fazit.
Es ist 11 Uhr. Ich sitze im Arbeitszimmer. Frisch gekämmt, Gesicht und Zahnzwischenräume noch einmal kontrolliert. Schnell habe ich das Regal im Hintergrund meines Computers noch ordentlich aufgeräumt, Staub gewischt – jetzt kann es losgehen. Videounterricht für die Klasse 6e am Gymnasium steht an; Mathematik – Dezimalzahlen sind das Thema. Ganz schön viel Zeit habe ich in die Lernplattform Moodle investiert. Ich habe virtuelle Abgaberäume eingerichtet – dort werden die erledigten Aufgaben hochgeladen, Anleitungen geschrieben und alles gut und übersichtlich strukturiert. Die Schüler können von mir selbst erstellte oder vorausgewählte Lernvideos ansehen, um bestmöglich das Fachwissen vermittelt zu bekommen.

11.15 Uhr, die Online-Stunde beginnt. Hoffentlich hat Frau Mahler nicht wieder überzogen und die Kinder zu spät aus ihrem digitalen Kunstunterricht entlassen. Nein, diesmal nicht. Alle sind anwesend. Prima, dann können wir starten. Lächelnd schaue ich in die Kamera und grüße freundlich. Zunächst bitte ich um Aufmerksamkeit und erkläre den Inhalt der heutigen Stunde, und dass ich die Hausaufgaben im Anschluss besprechen werde, als ich von Kevin jäh unterbrochen werde: „Ich habe bei den Hausaufgaben die Aufgabe 4 nicht verstanden.“ Eben hatte ich doch mitgeteilt, dass ich gleich darauf eingehen werde sage ich, und schalte sofort die Möglichkeit der privaten Chatunterhaltungen aller Schüler ab. Das habe ich anscheinend vergessen. Jetzt sind sicher alle aufmerksam - auch Kevin - und folgen den Ausführungen ihres Mathelehrers.
Mama hilft Lana
11.20 Uhr: Zur Hausaufgabe, also. Ich rufe einen Schüler auf: „Julian, kannst du bitte erklären, wie die Aufgabe 4 ging?“ Keine Antwort, ich warte. Und warte. „Julian?“, rufe ich fragend in die Runde. Sein Mikro funktioniere nicht, schreibt er in den Chat. Ach ja, stimmt. In seinem Dorf gibt es noch keinen Breitband-Internetzugang. Das ist blöd hier auf dem Land. Dann rufe ich eben Viktor auf. Auch er reagiert nicht. Sein Mikrofon hingegen ist angeschaltet, er scheint mich auch zu hören, aber ich ihn nicht. Ich entscheide mich, später bei ihm zuhause anzurufen und nachzufragen.
Die nächste: „Lana, erklär du mal die Aufgabe 4“. „Die haben wir auch nicht verstanden“, höre ich eine tiefe, vorwurfsvolle Stimme. „Lana, bist du etwa erkältet?“ „Ich bin Frau Schulze, die Mama“ vernehme ich meinem Lautsprecher. Auweia. Ich atme tief durch und bin jetzt richtig froh, dass ich mir vorhin soviel Mühe mit meinem Äußeren gegeben habe - jetzt, da wissentlich Mamas und Papas mit an den Geräten sitzen.
Dann stimmt es also doch, dass mein Unterricht vom Familiengremium beäugt und nach der Stunde ausgewertet wird. Mir graust es: „Für Mathe gibt es heute leider nur 4 von 10 Punkten“, höre ich es schon, das niederschmetternde Urteil einer schonungslosen Jury. Aber ich bin Profi. Weiter geht’s.
Welches Video?
Wohl oder übel entscheide ich mich, Aufgabe 4 selbst vorzurechnen, verweise aber auf das Lernvideo, das ich für die Klasse erstellt habe. Meiner Meinung nach waren die vier Stunden Arbeitszeit dafür gut investiert. Alles Wesentliche habe ich im Dreh zur Sprache gebracht. „Welches Video?“, fragt Anna. Ruhig bleiben – ich atme tief durch. „Ich hab es in Moodle für euch bereitgestellt“, flöte ich ins Tischmikrofon. „Ach so, das – das habe ich noch nicht angesehen.“ „Ich auch nicht“, „und ich auch nicht“, höre ich mehrfach. Schier platze ich, lasse es mir jedoch nicht anmerken. Mich ärgert das sehr, wo ich mir doch so viel Mühe gegeben habe und die Kinder wissen, was ich von ihnen erwarte.
Da bringe ich gleich noch an, was ich auch gar nicht gut finde: Viele geben die Hausaufgaben nicht ab. Dabei habe ich in jeder Video-Stunde thematisiert, wie und wo die Aufgaben eingereicht werden müssen.
Einige senden sie mir wenigstens per Mail, was die Durchsicht und vor allem Rückmeldung an die Schüler*innen jedoch erschwert. Auf der Plattform kann ich alles gleich korrigieren, markiere die Fehler, schreibe sogar individuelle Kommentare. Und immer dann, wenn ich das tue, sehne ich mich so sehr nach dem Präsenzunterricht. Da kann ich einiges parallel erledigen und habe mehr Zeit, mich um Einzelne zu kümmern.
Wo ist Viktor?
12 Uhr: Mittlerweile habe ich die Hausaufgabe vorgerechnet, Fragen zum Stoff beantwortet und die Schüler*innen zur Bearbeitung von Übungsaufgaben entlassen. Abgabezeitpunkt ist 13 Uhr – kurz nach Ende der sechsten Stunde. Ich nutze die Zeit, um bei der Familie von Viktor anzurufen. Es klingelt. Und klingelt - es klingelt lange. Der Anrufbeantworter springt an, ich frage nach dem Verbleib von Viktor und lege auf.
Schon eine Minute später der Rückruf: Viktor sei in seinem Zimmer, säße am PC und würde konzentriert arbeiten, sagt mir sein Vater aus dem Homeoffice. Ich frage mich, ob Viktor nicht doch anderweitig beschäftigt gewesen war (Computer-Games, Zocken, WhatsApp, o.ä.)? Naja, wenn er mir die Übungsaufgaben dieser Doppelstunde pünktlich abgibt, will ich fünfe gerade sein lassen.
Kurz nach 12 Uhr: Noch eine dreiviertel Stunde bis zum Unterrichtsende. Bis dahin stehe ich für Rückfragen zur Verfügung, was auch reichlich genutzt wird oder korrigiere die ersten digital abgegebenen Schülerlösungen.
Später, um 13.15 Uhr schaue ich gespannt, wie viele Schüler ihre Aufgaben hochgeladen haben. Das Resultat? Besser als zuletzt, doch nicht zufriedenstellend: 15 von 25 rechtzeitig, vier weitere kurz danach und die sechs anderen? Nichts. Übrigens: Auch Viktors Rückgabe fehlt.
Präsenzunterricht ist durch nichts zu ersetzen. Selbst wenn der Unterricht komplett als Videoschalte gestaltet wird. Wer weiß, was die Schüler*innen tun, nachdem sie sich angemeldet haben. Ob sie vor dem Computer sitzen oder sonstwo, der Lehrer kann’s nicht kontrollieren. Wenn sich jeder sichtbar machen würde, indem er sich bei eingeschalteter Kamera zeigen würde, wäre das Netz ob des großen Datenverkehrs heillos überlastet – insbesondere im ländlichen Raum.
Alle Klassen online: In der Stadt, im Landkreis, in Baden-Württemberg und in Deutschland. Das kann nicht gut gehen. Und wenn die Lehrkraft vorort fehlt, die den Schüler*innen über die Schulter schaut, mit einem Fingerzeig den Lösungsweg andeutet, mit einem Lächeln Verzweifelte wieder aufbaut, Abschweifende wieder in den Unterricht zurück holt, ist Videounterricht -so gut er auch sein mag – nur die zweite Wahl.
Zum Glück gibt es Eltern wie Lanas Mutter, die sechs Stunden vormittags mit ihrem Kind im Zimmer Seite an Seite sitzen und dem Unterricht folgen. Gut so. Dann kann nichts verloren gehen. Und sollte die Konzentration der Tochter bei der Dauerbeschallung am PC verloren gehen oder Lana kurz raus muss, springt eben Mama ein. Schreibt mit, notiert Lösungen in den Chat oder beteiligt sich an Ihrer Tochter Stelle an der Gruppenarbeit.
Wenn aber die Eltern arbeiten müssen, ihr Kind nicht so hervorragend unterstützen und begleiten können wie Frau Schulze? Dann hat das Kind eben Pech gehabt! Aber moment mal: Für wen ist der Unterricht eigentlich gedacht?