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Ostpolitik

„Brandt war ein Glücksfall der Geschichte“

Berlin / Lesedauer: 5 min

Egon Bahr über seinen politischen Wegbegleiter, der am morgigen Mittwoch 100 Jahre alt geworden wäre
Veröffentlicht:16.12.2013, 18:25

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Egon Bahr ( SPD ) gilt als Vordenker der Ostpolitik von Willy Brandt und war dessen politischer Weggefährte und Freund. „Er war mit sich im Reinen“, sagt Bahr über Brandts eigene Rückschau nach seinen Kanzlerjahren. Rasmus Buchsteiner hat mit Bahr gesprochen.

Herr Bahr, niemand hat Willy Brandts Wirken aus so großer Nähe verfolgt wie Sie. Wäre er betrübt angesichts der heutigen Lage der SPD?

Er würde die Situation sorgfältig und auch mit Sorge analysieren. Er würde sicher den Rat geben, dass die SPD ihren Anspruch auf die Führung des Landes weiter aufrecht erhalten muss. Sie darf nie ein bloßes Anhängsel von CDU und CSU sein. Willy Brandt wusste, dass die SPD dafür stark bleiben muss und niemals auf 20 Prozent oder darunter sinken darf.

Brandt wurde infolge der ersten Großen Koalition 1969 Bundeskanzler. Spricht das nicht dafür, es auch 2013 wieder mit CDU und CSU zu versuchen?

Ich bin von Sigmar Gabriels Fähigkeiten voll überzeugt. Er hat klug verhandelt. Die SPD kann nicht wählen zwischen einer guten und einer besseren Lösung. Es geht nur um das geringere Übel. Und das ist die Große Koalition. Der Koalitionsvertrag kann sich sehen lassen. Sigmar Gabriel war zu einer Mitgliederbefragung bereit und befindet sich damit in interessanter Nachfolge Willy Brandts und seines Satzes „Mehr Demokratie wagen“.

Wie wichtig ist Brandt heute noch für die Seele der SPD?

Die Erinnerung ist sehr lebendig. Willy Brandt fasziniert die Menschen in der Partei und darüber hinaus. Menschlich gesehen war er eine seltene Mischung: Er war ein Mann der Visionen, aber er hat nie die Bodenhaftung verloren. Er hatte große Ziele vor Augen. Aber er war auch ein hervorragender Techniker der Macht. Man kann nicht 24 Jahre an der Spitze dieser Partei stehen, ohne zu wissen, wann man mit wem telefonieren muss. Insofern war er übrigens Helmut Kohl sehr ähnlich.

Was unterschied Brandt von Konrad Adenauer?

Adenauer hat ihn in diesem Wahlkampf einmal als „Brandt alias Frahm“ bezeichnet. Das war eine diffamierende Anspielung auf Brandts uneheliche Geburt, die Namensänderung und die unpopuläre Emigration. Das hat Wunden gerissen, die niemals verheilt sind. Politisch trennte Adenauer und Brandt

viel: Adenauer hat die Bundesrepublik gen Westen geführt, Richtung NATO. Für ihn war die Deutsche Einheit entweder unerreichbar oder nicht so wichtig.

Und Brandt glaubte daran, auch nach dem Mauerbau?

Er hat fest daran geglaubt und die Zuversicht nie verloren. Wir wollten den Wandel durch Annäherung. Es ging um schrittweise Verbesserungen für die Menschen in Ost und West. Ohne die neue Ostpolitik wäre die Deutsche Einheit so nicht gekommen. Der Friedensnobelpreis für Brandt war die frühe Anerkennung für die Entscheidung, diesen Weg mit seinem Namen und für Deutschland mit dem Frieden verbunden zu haben.

Was machte Ihre Freundschaft zu Brandt aus?

Ich weiß nicht mehr, wann wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Aber es hat sich schnell ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Wir waren immer zusammen. Eine Woche nach seinem Tod bekam ich einen Brief von seinem Sohn Lars. Als er sich von seinem Vater verabschiedete, hatte er ihn noch kurz gefragt: „Wer waren Deine Freunde?“ Er antwortete: „Egon.“ Das war für mich der höchste Orden, den ich je bekommen habe.

Was waren Brandts Stärken?

Er war ein Glücksfall der Geschichte. Er wurde auch im Osten respektiert wegen seiner antifaschistischen Vergangenheit. Und er bekam Anerkennung im Westen, weil er als Regierender Bürgermeister West-Berlin verteidigt hatte. Er konnte führen. Die Art und Weise, wie er das Bundeskabinett leitete, war einmalig: Er ließ die Kollegen reden und fasste am Ende zusammen, sodass alle nickten – zu einem Ergebnis, das er wollte. Er wollte nicht befehlen, sondern überzeugen. Es ist kein Zufall, dass er als Bundeskanzler nie von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht hat.

Immer wieder gab es Berichte über Frauengeschichten und Depressionen Brandts – wie haben Sie seine Schwächen erlebt?

Er war sensibel. Natürlich hatte er auch menschliche Schwächen. Dass er sie gezeigt hat und offen mit ihnen umgegangen ist, wurde aber seine Stärke.

1970 reiste Brandt nach Polen. War der Kniefall von Warschau eine spontane Geste oder geplant?

Der Besuch in Warschau war schwer. Die Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik verfolgten das sehr intensiv. Deshalb war Brandt sehr vorsichtig. Alles war sorgfältig vorbereitet. Zum Kniefall entschloss er sich aber aus dem Moment heraus. Abends sagte ich meinem Freund: „Das war aber doll.“ Er erwiderte: „Ich hatte das Gefühl, Kranz niederlegen reicht nicht.“

Brandt trat nach der Guillaume-Affäre um einen Ost-Spion im Bundeskanzleramt zurück, dabei stand die FDP als Koalitionspartner zu ihm. War der Rücktritt ohne Alternative?

Diese Frage hat Brandt lange beschäftigt. Das kann man in seinen Notizen und Aufzeichnungen nachlesen. Er kam zu dem Ergebnis, dass er objektiv gesehen nicht hätte zurücktreten müssen. Auch der damalige FDP-Vorsitzende Walter Scheel war dieser Meinung. Aber Brandt sah die letzte Verantwortung bei sich und schrieb auf: „Ich war das Rindvieh, das zugestimmt hat, den Bundeskanzler zum Lockvogel zu machen.“

Brandts Rivale Herbert Wehner machte ihn immer wieder verächtlich – unter anderem mit dem Satz, der Herr bade gerne lau.

Vor seinem Rücktritt hatte Brandt in der Eifel ein langes Gespräch mit Wehner unter vier Augen. Danach konnte er sich des Rückhalts der Fraktion, die jeder Bundeskanzler braucht, nicht mehr sicher sein. Wehner kam am Tag des Rücktritts in die Fraktion und schrie: „Willy, du weißt, wir alle lieben dich!“ Bei so viel Heuchelei kamen mir die Tränen.

Womit haderte Brandt in der Rückschau?

Er war mit sich im Reinen. Brandt leitete die Nord-Süd-Kommission und lernte Michail Gorbatschow kennen. Er glaubte an ihn. Es war für Brandt ein großes Glück, das Wunder der Deutschen Einheit miterleben und vor einem gesamtdeutschen Bundestag sprechen zu dürfen. Das war für ihn die Vollendung.