
Extrembergsteiger Thomas Lämmle ist im April mit dem Gleitschirm abgestürzt. Das Krankenhaus konnte er nur im Rollstuhl sitzend verlassen. Aber mit der Aussicht, nie wieder auf Berge steigen zu können, wollte sich Lämmle nicht abfinden. Deshalb trainiert er täglich, um verlorene Muskulatur wieder aufzubauen. Und um einen Muskel, der zu verkümmern droht, nicht aufzugeben. Sein Ischiasnerv ist inaktiv. Alles abwärts seines linken Knies ist gelähmt.
Lesen Sie die ganze Geschichte über Thomas Lämmles Absturz hier:
Michael Scheyer hat mit dem Physiotherapeuten Jörg Heim gesprochen, der Thomas Lämmle im Radius in Ravensburg betreut. Sowohl der Patient als auch die Therapie stellen für Heim eine Ausnahme dar.
Herr Heim, Sie betreuen Thomas Lämmle als Physiotherapeut. Vielleicht erklären Sie kurz, was Sie mit ihm gegenwärtig machen?
Es geht gerade darum, die Muskulatur des linken Beins, die zwar noch vorhanden ist, aber wegen des geschädigten Nervs nicht oder nur sehr gering versorgt wird, zu erhalten. Wir müssen verhindern, dass sie verkümmert. In der Erwartung, dass der Nerv sich wieder erholt und er mit der Muskulatur wieder arbeiten kann.
Was passiert denn mit den Muskeln, wenn man sie nicht stimuliert?
Dann nimmt die Muskelmasse ab. Sie wird immer weniger und im weiteren Verlauf teilweise durch Fett und Bindegewebe ersetzt. Die betroffenen Körperabschnitte sind dann optisch ganz dünn, quasi Haut und Knochen. Ist der Muskel einmal weg, kommt er nicht wieder.
Wie kann man das verhindern?
Wir machen viel Muskelstimulation mit Strom. Physikalische Therapie, um die Muskulatur von außen zu stimulieren und funktionsfähig zu halten. Thomas versucht gleichzeitig, die Muskeln selbstständig anzuspannen. Das ging am Anfang gar nicht. Er sagt immer: „Wie funktioniert das? Wie kann ich diesen Muskel anspannen, um mein Bein zu beugen? Ich hab die Verbindung vom Kopf zu den Muskeln nicht mehr.“ Aber dank des Trainings gelingt es ihm, einzelne Muskelgruppen wieder selbstständig anzuspannen. Das kann kurze Zeit später schon wieder nicht mehr funktionieren aber eine kontinuierliche Wiederholung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Vernetzung irgendwann wieder ganz funktioniert.

Was muss man sich unter dieser Vernetzung vorstellen? Besteht der Nerv noch oder entsteht er neu?
Der Nerv besteht noch. Die Frage ist: Wie stark ist dieser beschädigt und wie viel kommt da noch durch? Das muss man jetzt abwarten. Mit einem zielgerichteten Training kann die Regeneration der Nerven unterstützt und ein optimales Umfeld geschaffen werden, damit die Rehabilitation möglichst effektiv abläuft.
Kann man Nerven also wie Muskeln auch trainieren?
Das leider nicht. Das Nervensystem des Menschen ist sehr komplex und feingliedrig. Aufbau und Funktion von Nerven kann nicht mit Muskulatur verglichen werden. Bei Thomas ist das Rückenmark glücklicherweise verschont geblieben. Die lädierten Nerven, welche bei ihm betroffen sind, liegen im Bereich des Beckens. Bei Nervenverletzungen in diesem Bereich ist eine Regeneration möglich. In welchem Ausmaß sich die Nerven regenerieren, bleibt aber noch abzuwarten. Wenn ein Nerv jedenfalls durchtrennt wird, sprießt er wieder aus und wächst. Allerdings geht dieser Prozess nur sehr langsam voran. Daher sind Nerven nicht so berechenbar wie Muskeln.
Worauf muss man bei der Therapie achten?
Die Therapieintensität spielt eine wichtige Rolle. Man muss behutsamer sein. Wird ein Nerv zu stark beansprucht, kann das kontraproduktiv werden. Wird er zu stark gereizt, kann das sehr weh tun. Das ist ein bisschen ein Seiltanz und der Betroffene muss dabei für sich herausfinden, was gut und was zu viel ist.
Ich dachte, die Patienten spüren keinen Schmerz mehr?
Doch. Am Ende leidet er an Nervenschmerzen. Schmerz entsteht im Kopf. Ein gutes Beispiel dafür sind sogenannte Phantomschmerzen in bereits amputierten Körperteilen. Als Therapeut muss man auch auf die Lebensumstände und die individuelle Persönlichkeit eingehen, damit das Training nicht zu viel wird. Den Thomas, zum Beispiel, muss man eher bremsen. Er ist sehr ehrgeizig. Und er hat ja auch Ahnung davon, was er macht, und ist als Sportwissenschaftler auch vom Fach. Am Ende bleibt mir nur zu sagen: „Thomas, pass bitte auf Dich auf. “
Ist Thomas Lämmle für Sie ein seltener Therapiefall?
Das ist ein ganz seltener Fall. Thomas ist ein besonderer Mensch mit einer besonderen Geschichte. Mit dieser Schwere der Verletzung haben wir selten im Alltag zu tun. Das ist für mich und für uns als Team im „radius“ auch etwas Besonderes, den Thomas auf seinem Weg therapeutisch zu unterstützen.

Haben Sie denn schon Erfolge beobachtet?
Total! Er kam aus der Reha und schon am ersten Tag konnten wir Fortschritte beobachten. Wenn auch nur sehr kleine. Am Anfang haben die Muskeln nur leicht gezuckt. Aber in dieser Situation ist jedes kleine Bisschen sehr viel. Wenn man gelähmt ist und dann wieder etwas bewegen kann, egal, ob es der kleine Zeh, der Fuß oder die Gesäßmuskulatur ist, ist das natürlich fantastisch. Und man muss sehen: Jedes Bisschen mehr bedeutet mögliche Verbesserungen im Alltagsleben.
Verstehe ich das also richtig, dass die Psyche bei der Therapie von Lähmungen auch viel ausmacht?
Wir beobachten jedenfalls, dass die Psyche sehr viel dabei ausmacht. Für die Wissenschaft ist das allerdings schwierig zu greifen. Aber die richtige Lebenseinstellung und ein gewisser Ehrgeiz – in einem vernünftigen Maß jedenfalls – unterstützt auch in diesem Fall die Reha natürlich ungemein. Nehmen wir Thomas zum Beispiel: Ohne seinen Ehrgeiz wäre er vorher ja auch nicht auf 8000 Meter hoch gekommen. Und dieser Ehrgeiz hilft ihm jetzt in der Reha sehr. Für ihn war das ein ungeheurer Schlag. Er wusste, dass alles, was er vorher getan hat, so nicht mehr funktionieren würde. Und trotzdem bringt er diese Motivation auf. Die erkennt man am Leuchten in seinen Augen, wenn er erzählt, dass er den Kohlenberg in Waldburg erklommen hat – so, als wäre er auf einen 8000er geklettert – das ist sehr beeindruckend mitzuerleben.
Was können wir, die wir nicht auf 8000er steigen, daraus lernen?
Jeder kann sich in jedem Fall eine Scheibe von seiner Motivation abschneiden: Egal, wie schlecht es einem geht, kann man stets eine Verbesserung erreichen, wenn man aktiv bleibt. Ein gesundes Maß an körperlicher Aktivität stärkt das gesamte System und wirkt sich auch auf unsere Psyche positiv aus. Das ist ein ganz elementarer Punkt: Verbesserungen im Alltagsleben.
Verstehe ich das also richtig, dass die Psyche bei Lähmungen auch viel ausmacht?
Wir beobachten jedenfalls, dass die Psyche viel dabei ausmacht. Aber für die Wissenschaft ist das schwierig zu greifen. Aber die richtige Lebenseinstellung und ein gewisser Ehrgeiz – in einem vernünftigen Maß jedenfalls – unterstützen auch in diesem Fall die Reha natürlich ungemein. Neben wir Thomas zum Beispiel: Ohne seinen Ehrgeiz wäre er vorher ja auch nicht auf 8000 Meter hoch gekommen. Und dieser Ehrgeiz hilft ihm jetzt in der Reha sehr. Für ihn war das ja ein ungeheurer Schlag. Er wusste, dass alles, was er vorher getan hat, so nicht mehr funktionieren würde. Und trotzdem bringt er diese Motivation auf. Die erkennt man am Leuchten in seinen Augen, wenn er erzählt, dass er den Kohlenberg in Waldburg erklommen hat – so, als wäre er auf einen 8000 geklettert – das ist sehr beeindruckend mitzuerleben.
Was können wir, die wir nicht auf 8000er steigen, daraus lernen?
Jeder kann sich in jedem Fall eine Scheibe von seiner Motivation abschneiden: Egal, wie schlecht es einem geht, auch dann, wenn man wie Thomas im Rollstuhl sitzt, kann man viel erreichen, wenn man aktiv bleibt. Körperlich kann man viel erreichen und auch psychisch. Das ist ein ganz elementarer Punkt.