Artilleriewaffe

Weniger Mauer, mehr Licht

Ravensburg / Lesedauer: 5 min

Welche Rolle Staat und Stadt beim Abbruch der Ravensburger Stadtmauern im 19. Jahrhundert gespielt haben
Veröffentlicht:19.09.2018, 17:01

Artikel teilen:

Spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) und der rasanten Entwicklung der modernen Artilleriewaffen hatte die aus dem späten Mittelalter stammende Ravensburger Stadtbefestigung ihren militärischen Wert weitgehend eingebüßt. In der Folgezeit wurde denn, auch angesichts der finanziellen Engpässe der Reichsstadt, nur noch wenig zu ihrer Instandhaltung getan.

So blieb der Schellenberger Turm (Katzenlieselesturm) nach seinem teilweisen Einsturz im Jahre 1773 als Ruine stehen und einige Abschnitte der Stadtmauer zeigten deutliche Spuren des Verfalls. Dennoch war die Stadt nach wie vor durch die sechs bis acht Meter hohe Ringmauer und die davor verlaufenden Gräben nach außen abgeschlossen. Der Weg in die Stadt führte nur durch die vier leicht zu kontrollierenden und nachts noch bis zum Ende der 1830er-Jahre aus Sicherheitsgründen verschlossenen Tore.

Nach der Mediatisierung der Reichsstadt und ihrer Angliederung an Bayern (1802) hatte der bayerische Stadtkommissar und Landrichter Friedrich Karl Weber 1809 angeordnet, die Dächer des auf der Stadtmauer verlaufenden Wehrgangs abtragen zu lassen. Neben dem Motiv der „Stadtverschönerung“ sah er darin auch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für örtliche Handwerker in dieser wirtschaftlich krisenhaften Zeit. Durch die Beseitigung der Dächer waren die Mauern aber nun verstärkt den Witterungseinflüssen ausgesetzt. Nach dem Übergang Ravensburgs an Württemberg (1810) blieb es auf diesem Gebiet zunächst ruhig.

Doch 1822 forderte der Oberamtsarzt Franz Joseph Maag , ein einflussreicher staatlicher Beamter vor Ort also, die weitgehende Beseitigung des unmittelbar an der Nordseite der Liebfrauenkirche verlaufenden Stadtmauerabschnitts, um diesem Gotteshaus somit „mehr Licht und Luft zu verschaffen“. Ein Jahr später drängte das Oberamt als untere staatliche Behörde auf einen zügigen Beginn der Abbruchmaßnahmen.

Der Gemeinderat verwies jedoch auf die ungeklärte Kostenfrage und auch darauf, dass die Tuchmacher bislang einige Abschnitte des Wehrganges gegen Entgelt zum Trocknen ihrer Erzeugnisse genutzt hatten. Im Grundsatz erklärte er sich allerdings zu einer teilweisen Schleifung der Stadtmauer bereit und verwies auf die partielle Einsturzgefahr, die vermeintlich nutzlosen, weiteren Unterhaltskosten und die Verbesserung der Gesundheit der Stadtbewohner durch einen dann erleichterten Luftzug.

Als aber 1828 der aus örtlichen Repräsentanten zusammengesetzte, neben dem Stiftungsrat für die Fürsorgeeinrichtungen zuständige Kirchenkonvent beantragte, die Mauern hinter dem Heilig-Geist-Spital und dem Bruderhaus fast ganz abzubrechen, da sie für die Feuchtigkeit dieser Gebäude mitverantwortlich seien, bremste der Gemeinderat wieder. Der Armenfonds müsse dann die Abbruchkosten voll übernehmen und die Stadt dürfe „weder an Sicherheit noch an Ansehen“ verlieren.

Mauern wichtig für die Kriegsführung

Gestützt auf ein Gutachten von Ignaz Schättle, dem Nachfolger Maags als Oberamtsarzt, forderten zahlreiche Bewohner der Unterstadt in einer Petition 1836, die Mauer zwischen Untertor und Gemaltem Turm zumindest deutlich zu erniedrigen; sie zielten wiederum auf eine dadurch verbesserte Luftzirkulation. Im Gemeinderat argumentierte demgegenüber ein „konservativer“, noch von einiger reichsstädtischer Nostalgie geprägter Teil so: „Die Erhaltung der Stadtmauern hätten die Städte von jeher als Ehrensache sowie die gezwungene Abhebung [Abbruch] als eine Schmach betrachtet. In Kriegs- oder anderen gefährlichen Zeiten entbehre man bei niedrigem Stand der Mauern einer tüchtigen Wehr. Luft und Licht sei den Anwohnern durch den bereits genehmigten Abbruch schon gewährt“.

„Fortschrittlichere“ Räte hingegen wollten den Antragstellern aus der Unterstadt durch eine weitgehende Beseitigung der Mauern „die Aussicht in die Umgebung, Luft und Licht in reichlicherem Maße“ ermöglichen.

Desweiteren bot die Mauer ihrer Meinung nach bei der gegenwärtigen Form der Kriegsführung kaum mehr Schutz. Die staatliche „Medizinalvisitation“ von 1838 mahnte einen gleichmäßigen Abriss der Stadtmauer wenigstens bis auf „Brusthöhe“ an, worauf der Gemeinderat sein bisheriges Zögern auf die „Anhänglichkeit der Einwohner an diese Mauern [zurückführte], an welche sich so viele historische Erinnerungen knüpfen“.

Vortore am Obertor und am Frauentor abgerissen

Nach weiteren Aufforderungen von staatlicher Seite kamen die Abbrucharbeiten schließlich an zahlreichen Abschnitten der Stadtmauer in Gang und wurden bis etwa 1870 forciert betrieben, allerdings nicht zur Gänze durchgeführt. 1839/40 wurden die Vortore am Obertor und am Frauentor abgerissen, 1842 nach einem längeren Hin und Her dann auch der Kästlinstorturm beseitigt; mit dieser Maßnahme gab man vor allem dem beharrlichen Drängen der staatlichen Behörden nach besseren Zufahrten in die Stadt nach. Die Steine des Kästlinstors wurden der evangelischen Kirchengemeinde überlassen, die in nächster Nachbarschaft in den folgenden Jahren den 56 Meter hohen, neugotischen Glockenturm errichtete.

Die Steine der Stadtmauer wurden gegen ein gewisses Entgelt an interessierte Bürger abgegeben, auch fanden sie 1847 beim Bau des Ravensburger Bahnhofs Verwendung oder wurden 1856 zu günstigen Konditionen für die Neubauten der Maschinenfabrik Escher Wyss und 1868 für die damals an der Seestraße neu errichtete Pinselfabrik Sterkel zur Verfügung gestellt.

Die vor der Mauer gelegenen Stadtgräben wurden zunächst zu großen Teilen an interessierte Bürger zur Anlage von Kleingärten und Obstbaumpflanzungen verpachtet und später nach und nach – nicht zuletzt mit Abbruchmaterial und Abraum der Bürger – zugeschüttet – darauf entstanden Wege, Straßen und Grünanlagen. Lediglich der Hirschgraben blieb erhalten.

Nur noch wenige Abschnitte erhalten

Die schon geschilderte, zögerliche Haltung des Gemeinderats hinsichtlich der Beseitigung der Stadtbefestigung, wohl aber vor allem die absehbar beträchtlichen Abbruchkosten, bewahrten jedoch – mit der Ausnahme des Kästlinstors – die übrigen hohen Mauertürme und Stadttore mit ihrem mächtigen Mauerwerk vor der Spitzhacke. Zudem galten erste Regungen der Denkmalpflege vor Ort nicht zuletzt diesen historischen Wahrzeichen der einstigen Reichsstadt. So hatte der Gemeinderat zum Beispiel schon 1837 anlässlich der Vermietung des Grünen Turmes an das Oberamt zur Einrichtung von Gefängniszellen die Erhaltung seines schönen, historischen Dachs mit den grün glasierten Ziegeln zur Bedingung gemacht.

Neben einigen Resten vor allem an der Westseite der Altstadt sind heutzutage jedoch nur noch wenige Abschnitte der Stadtmauer in voller oder wenigstens annähernder Originalhöhe erhalten, so an der Außenseite der Bauhütte (Frauentorplatz), am Hirschgraben und beim Rondell am Gänsbühl.