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Punktlandung

Ministerpräsident und Ex-Greenpeace-Chef reden beim BBF-Talk Klartext

Ravensburg / Lesedauer: 9 min

Das Bodensee Business Forum im Spezial-Talk-Format. Winfried Kretschmann und Gerd Leipold diskutieren über Corona-Politik, Klimawandel sowie gesellschaftliche Spannungen und Herausforderungen.
Veröffentlicht:21.09.2020, 21:15

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Der Ministerpräsident legt eine Punktlandung hin – obwohl er noch mal zurück muss zum Dienstwagen, um seine Mund-Nasen-Maske zu holen. Um 19 Uhr sitzt Winfried Kretschmann (Grüne) am Montagabend im Studio von Regio TV Stuttgart.

Neben ihm Gerd Leipold , ehemaliger Chef von Greenpeace International. Zwei Oberschwaben treffen sich im Stuttgarter Römerkastell, um auf Einladung der „Schwäbischen Zeitung“ zu diskutieren – über Corona, die Provinz, die Politik und ihre Heimat.

Im Studio diskutiert Chefredakteur Hendrik Groth mit Gerd Leipold und Winfried Kretschmann.

Die Kulisse sollte eigentlich eine andere sein. Mit Blick auf Bodensee und Alpen wollten Kretschmann und Leipold mit rund 700 Gästen diskutieren, darunter NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), FDP-Chef Christian Lindner und der Grünen-Bundespolitiker Cem Özdemir, Annette Schavan (CDU), ehemalige Bildungsministerin und Botschafterin beim Heiligen Stuhl im Vatikan. So wie in den Vorjahren beim Bodensee Business Forum (BBF) der „ Schwäbischen Zeitung “ in Friedrichshafen.

Corona verändert auch das BBF-Format

Der Ausbruch der Corona-Pandemie zwang die Veranstalter zur Absage – so wie Kretschmann vor der Sendung zurück zum Auto. Die ins Netz gestreamte und bei RegioTV übertragene digitale Version des BBF ist eine Premiere. Hendrik Groth, Chefredakteur der „Schwäbischen Zeitung“, moderiert gemeinsam mit Digitalredakteurin Lilia Ben Amor.

Gerd Leipold, ehemaliger Chef von Greenpeace International.

Vieles verbindet Kretschmann und Leipold. Beide stammen aus Oberschwaben , der eine aus Laiz, der andere aus Rot an der Rot. Beide flohen aus der von ihnen so empfundenen oberschwäbisch-katholischen Enge, beide engagierten sich für die Umwelt und gegen Atomkraft.

Kretschmann und Leipold haben einiges gemeinsam

Leipold suchte deutlicher Distanz als Kretschmann. München, London, San Diego, Hamburg, Amsterdam: Jahrzehnte verbrachte er in aller Welt, drei davon in Diensten der Umweltschutzorganisation Greenpeace International , acht Jahre als deren Chef. Erst mit über 60 kehrt er in sein Elternhaus zurück.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann diskutiert.

Kretschmanns Fluchten führten nicht so weit in die Ferne. Geboren in Spaichingen verließ er das katholische Internat in Riedlingen, zu hart straften die Priester dort. Er wechselte ins Gymnasium nach Sigmaringen, studierte Biologie, Chemie und Ethik auf Lehramt in Hohenheim. Politisch aber entfernte er sich zunächst weit vom konservativen Oberschwaben. Seine Mitgliedschaft im Kommunistischen Bund Westdeutschland bezeichnet er heute als großen Fehler.

Kretschmann, der konservative Grüne

Danach näherte er sich politisch immer mehr der Heimat – als Mitbegründer des ersten Grünen-Landesverbandes 1979 war er vielen in seiner Partei stets zu konservativ, zu wenig links. Dabei ist es geblieben, nachdem er 2011 erster Ministerpräsident seiner Partei wurde – und bei den kommenden Landtagswahlen 2021 für weitere fünf Jahre bleiben will.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne).

Neben den Hauptakteuren sind es die Zuschauer, die den 90 Minuten Talk Schwung verleihen. Sie schicken Fragen ins Studio.

User und Leser stellen Ihre Fragen

Es geht zuerst um Corona und die Folgen. Ex-Greenpeace-Chef Leipold ist zufrieden mit dem Krisenmanagement der Politik – und den Bürgern. „Es gab einen guten Zusammenhalt in der Bevölkerung, das Gesundheitssystem hat sich bewährt und auch das politische System.“ Über Parteigrenzen hinweg habe die Politik bewiesen, dass es ihr um das Wohl der Gesellschaft gehe.

Das sind unsinnige Thesen.

Winfried Kretschmann

„Wir haben uns mit Entschlossenheit und Besonnenheit durch die Krise gerudert“, beschreibt Kretschmann die vergangenen Monate. Seine Regierung habe sich beraten lassen von Experten und versucht, in die Gesellschaft hineinzuhören. Nachdrücklich weist er Zuschauer zurück, die nach einer Steuerung politischer Entscheidungen durch „Eliten“ fragen. „Das sind unsinnige Thesen“, so der Ministerpräsident. Er sei darüber besorgt, dass Bürger zunehmend nicht mehr an Fakten glaubten.

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Doch jene, die gegen die Corona-Maßnahmen demonstrierten, seien deutlich in der Minderheit. „An sich ist es nicht schlecht, wenn Menschen verschiedene Ansichten haben. Mich irritiert aber, dass viele dieser Menschen nicht wahrnehmen, dass sie von Rechtspopulisten und Schlimmeren instrumentalisiert werden.“

Kretschmann weicht unbequemer Frage aus

Mit dieser Antwort weicht er einer Frage von Chefredakteur Groth geschickt aus. Nämlich, was er davon halte, dass unter den Anti-Corona-Demonstranten alternatives Publikum sei – Anthroposophen, Biolandwirte, Menschen mit Hang zum Esoterischen. Also Bürger, die wohl auch gerne mal Grün wählen.

Eines der zentralen Themen im politischen Leben beider Gesprächspartner spielt ebenfalls eine große Rolle: der Kampf gegen den Klimawandel. „Wer kann sich denn schon ein neues E-Auto für 50000 Euro leisten“, will eine Zuschauerin wissen. „Ein E-Auto kostet keine 50000 Euro mehr“, kontert Kretschmann. Er habe eins privat bestellt, das koste über 20000 Euro, aber nicht mehr. Unter anderem wegen der hohen Fördergelder, die der Bund mittlerweile zahle.

Die Automobilindustrie ist das Rückgrat unserer Wirtschaft.

Winfried Kretschmann

„Die Automobilindustrie ist das Rückgrat unserer Wirtschaft. Nicht nur die großen Konzerne, über die man sich natürlich in den vergangenen Jahren wegen ihrer Tricksereien geärgert hat.“ Zulieferer und Dienstleister in diesem Sektor sicherten ebenfalls Zehntausende Jobs im Südwesten. Es gelte daher, diese Industrie zu transformieren, ohne sie zu verlieren. Längst hat Kretschmann gelernt, dass ein Ministerpräsident im Autoland Baden-Württemberg mit Sätzen wie „Weniger Autos sind besser als mehr“ nicht gut regieren kann. Diesen Satz prägte er zu Beginn seiner Amtszeit - mit entsprechendem Echo.

Pragmatiker mit strikter Linie

Es gehört zum bisherigen Erfolgsrezept, sich als Pragmatiker zu präsentieren, der radikale Vorschläge auch aus dem eigenen Lager deutlich zurückweist – legendär sein heimlich gefilmter Disput mit dem Grünen-Bundestagsabgeordneten Matthias Gastel über Verbote für Autos mit Verbrennungsmotor. Gerne sagt Kretschmann zu solchen Vorstößen, er sei keine Nichtregierungsorganisation – er regiere. Wer anderes wolle in seiner Partei, müsse bei Wahlen eben mit acht Prozent zufrieden sein. Im Südwesten rührt sich deswegen wenig grüner Protest gegen den obersten Pragmatiker, denn seine Popularität sichert vielen Abgeordneten im Landtag die Sitze.

Wenn wir die Klimaziele erreichen wollen, dürfen Autos mit Verbrennungsmotor nicht mehr lange fahren.

Gerd Leibold

Gerd Leipold war lange Chef einer Nichtregierungsorganisation, stand aber in seiner Amtszeit durchaus auch für Dialog mit den Kritisierten. Selbst wenn er diesen mit ungewöhnlichen Mittel erzwang – etwa als er im Tigerkostüm eine Tankstelle mit seinen Aktivisten sperrte aus Protest gegen die Ölmultis.

Der ehemalige Chef von Greenpeace International, Gerd Leipold.

Beim Thema Autoland Baden-Württemberg ist er anderer Meinung als Kretschmann: „Wenn wir die Klimaziele erreichen wollen, dürfen Autos mit Verbrennungsmotor nicht mehr lange fahren.“ Er hoffe, Kretschmann mache hinter verschlossenen Türen mehr Druck als öffentlich. „Wir müssen uns jetzt auf einen schnellen Ausstieg vorbereiten, nicht noch mehr Zeit verlieren.“

Der Ministerpräsident gibt zwar zu: „Wir müssen noch mehr Tempo machen.“ Aber seine Landesregierung unternehme viel, um den Weg zu einer klimafreundlichen Wirtschaft zu ebnen, ohne zu viele Jobs zu riskieren – wie den öffentlich gut inszenierten Strategiedialog mit Industrie und Zulieferern. Am Ende müsse man aber die Menschen mitnehmen und schauen, dass die Dinge auch funktionierten.

Ohne Fridays for Future wären wir noch gar nicht so weit.

Gerd Leibold

Er sei dankbar für die Proteste der Bewegung Fridays for Future. Aber die Politik dürfe nicht den Blick für das verlieren, was machbar sei. Die jungen Klimaaktivisten sind mit solchen Sätzen weniger zufrieden, forderten bereits mehrfach öffentlich mehr Aktivität von Kretschmanns Landesregierung – und gerade von den Grünen. „Ohne die Fridays for Future wären wir noch gar nicht so weit“, glaubt Leipold.

Im Studio diskutiert Chefredakteur Hendrik Groth (links) mit Gerd Leipold (mitte) und Winfried Kretschmann (rechts).

Digitalisierung, Spaltung der Gesellschaft: Kretschmann und Leipold spielen sich viele Bälle zu an diesem Abend – und dem Publikum. Eine Zuschauerin erfährt, dass sie dasselbe Problem hat wie der Ministerpräsident. Sie beschwert sich: „Wir reden über 5G, aber stopfen die Funklöcher nicht mal.“ „Das geht mir genauso, wenn ich von Laiz nach Stuttgart fahre. Und zwar seit ich im Amt bin“, entgegnet Kretschmann.

Heute empfinde ich Berlin oft provinzieller als Oberschwaben.

Gerd Leipold

Da stimmt ihm Globetrotter Leipold zu. „Selbst in Afrika hatte ich zum Teil bessere Netzabdeckung als hier.“ Doch ansonsten habe sich viel getan in seiner Heimat, erzählt Leipold – der Oberschwaben früher als „katholisches Nordkorea“ erlebte. „Heute empfinde ich Berlin oft provinzieller als Oberschwaben“, sagt er. Dort richte sich der Blick gerade wegen der zahlreichen international operierenden Unternehmen ins Ausland, der Einfluss von Kirche und Konservatismus sei deutlich geschwunden. In der Hauptstadt dagegen lebten viele in einer sehr deutschen Blase.

Kretschmann verteidigt die Provinz

Kretschmann kommen Begriffe wie „Pampa“, in die man straffällige Flüchtlinge schicken solle, nicht mehr über die Lippen. Stattdessen schwärmt er von einer Achse vom See bis Ulm – einer Boomregion, unzähligen Hochschulen, Mittelstädten mit „urbanem Lebensgefühl“. Nicht einmal die Klage einer jungen Frau aus Friedrichshafen lässt er gelten – die hatte in einem eingespielten Film moniert, es gebe dort zu wenige Clubs.

Man kann im Alter wie in der Jugend unsinnige Ideen haben.

Winfried Kretschmann

Am Ende des Abends blicken beide noch einmal auf ihre Biografien zurück. „Ist man im Alter weniger radikal als in der Jugend?“, fragt Moderator Groth. Leipold teilt das nicht. „Ich glaube nicht an Altersweisheit, ich erlebe das oft als Altersstarrsinn.“ Und Kretschmann verweist auf die eigene Erfahrung: „Man kann im Alter wie in der Jugend unsinnige Ideen haben“, wie seine „Verirrung in linksradikale Sekten“. Man müsse eben auch im Alter neugierig bleiben – „eine Eigenschaft, die Menschen anders als Säugetiere haben“. Ein typischer Kretschmann zum Abschluss: den Biologielehrer und Erklärer hat er nie ganz abgelegt, der Berufspolitiker.